Russland 1917

Einige Schlussfolgerungen aus den bisherigen Sendungen:

Die Rezeption der Geschichte der „Oktoberrevolution“, des Bürgerkriegs und der Sowjetunion wurde über viele Jahrzehnte – in einigen Varianten der Stalinzeit und Nach-Stalinzeit – von der KPR, später der KPdSU gesteuert. Viele Quellen und Dokumente blieben unter Verschluss und wurden der Öffentlichkeit, oft mit Beihilfe der westeuropäischen kommunistischen Parteien, vorenthalten. Im Westen dominierten ansonsten antikommunistische Sichtweisen, die große Medienwirksamkeit erlangten. Jetzt, 100 Jahre nach den Geschehnissen, haben wir die Möglichkeit, uns auf einer breiteren Quellenbasis ein eigenes Urteil zu bilden und auf die hergebrachten „Erzählungen“ über die „Oktoberrevolution“ einen kritischen Blick zu werfen.

 

Das haben wir versucht und dabei immer wieder großen Wert darauf gelegt, Quellen und Dokumente vorzustellen, um ein eigenes Urteil der Hörer*innen und Leser*innen zu ermöglichen. Besonders die beiden letzten Sendungen
Vorbereitung auf die „Diktatur des Proletariats“ – Lenins Schrift Staat und Revolution
Umsturz im Oktober – „Alle Macht den Räten!“ oder „Diktatur des Proletariats“?
werfen einen kritischen Blick auf die bisherige Rezeption, vor allem auf die Frage:

 

Gab es – revolutionäre – Alternativen zum bewaffneten Aufstand der Bolschewiki?

Kann sich eine Revolution "demokratisch" legitimieren?

 

Wir haben versucht, vor allem in der letzten Sendung  – Umsturz im Oktober: „Alle Macht den Räten!" oder Diktatur des Proletariats? Vom 16.11.2017 – herauszuarbeiten, dass es durchaus basisdemokratische, revolutionäre Alternativen zum bewaffneten Aufstand der Bolschewiki und zur Machtübernahme durch den „Rat der Volkskommissare“ gab.
Die Orientierung der Bolschewiki unter dem Einfluss Lenins auf den bewaffneten Aufstand einer kleinen disziplinierten und entschlossenen Gruppe, widersprach der Losung „Alle Macht den Räten!“, die Lenin auch schließlich aufgab.
Nachdem die Provisorische Regierung mit Kerenski gescheitert war, lag es nahe, eine Übergangsregierung bis zu der vom ganzen Volk dringend erwarteten Konstituierenden Versammlung aus den vorhandenen Räten heraus zu bilden. Auf nichts anderes zielte doch die seit Monaten von den revolutionären Kräften erhobene Losung: „Alle Macht den Räten!“ Dies hätte aber für die Bolschewiki geheißen, eine Koalition mit anderen in den Räten repräsentierten, teils fest verankerten politischen Kräften zu bilden, vor allem mit den Menschewiki und den linken Sozialrevolutionären. Die Bildung einer solchen, auf den Räten basierenden Koalitionsregierung wurde immer wieder, zuletzt auf dem II. Allrussischen Kongress diskutiert und vorbereitet. Der parallel organisierte bewaffnete Aufstand der Bolschewiki und der darauf folgende Rückzug der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki beendete diese Möglichkeit.
Und genau dies war Lenins Kalkül: Er wollte eine Regierungsübernahme durch die Bolschewiki mit ihm selbst als Regierungschef und nutzte die Situation nach dem Auszug der anderen, um den „Rat der Volkskommissare“ vom immer noch formal beschlussfähigen II. Allrussischen Sowjetkongress per Akklamation bestätigen zu lassen.
Eine Alternative wäre eine auf dem Kongress gebildete Koalitionsregierung gewesen. Dies hätte letztendlich auch zu einer bewaffneten Machtübernahme und zur Verhaftung der Provisorischen Regierung führen können, dann aber mit einer breiteren Beteiligung sowohl des Volkes als auch der verschiedenen politischen Kräfte. Eine solche Regierung hätte es kaum nötig gehabt, all die hysterischen Maßnahmen zu ergreifen, wie die Aufhebung der Pressefreiheit, die vielfältigen Repressionen und Zwangsmaßnahmen, mit denen die Bolschewiki sich dann im Namen der „Diktatur des Proletariats“, im Grunde aber wegen ihrer zu schmalen Basis über Wasser hielten.


„Alle Macht den Räten!“ und die „Diktatur des (vermeintlichen) Proletariats“ sind entgegengesetzte, sich einander ausschließende Strategien.

Es gibt unserer Meinung nach schon eine Linie, die vom bewaffneten Umsturz, dem Verzicht auf eine auf den Räten basierenden Koalitionsregierung hin zum Ein-Parteien-System und zu immer weiteren Repressionen gegenüber Andersdenkenden führte. Dies gilt auch im Hinblick auf den Bürgerkrieg. Man trieb alle, die sich den Bolschewiki nicht anschlossen, aus dem Land oder den Weißen direkt in die Arme. Aber das ist ein weiteres Thema ...

 

 © Brigitte Forßbohm, Michael Forßbohm, Herderstr. 31, 65185 Wiesbaden, Tel (06 11) 30 94 33, info@brigitteforssbohm.de