Russland 1917

Umsturz im Oktober: "Alle Macht den Räten!" oder diktatur des proletariats?

Sendemanuskript vom 16.11.2017

Diese Frage stellte sich nach dem Sturz der Kerenski-Regierung am 25. Oktober 1917 im revolutionären Russland.

Wir lesen in dieser Sendung aus der Reportage des amerikanischen Journalisten John Reed "Zehn Tage, die die Welt erschütterten", und lassen weitere Zeitzeugen zu Wort kommen. In John Reeds Buch „sind die ersten Tage der Oktoberrevolution ungewöhnlich eindrucksvoll und stark beschrieben. Es ist keine einfache Aufzählung von Tatsachen, keine Sammlung von Dokumenten, es ist eine Reihe lebendiger, derart typischer Szenen, daß jedem Teilnehmer der Revolution die analogen Szenen, deren Zeuge er war, in Erinnerung kommen müssen ..." N. Krupskaja.

Eine Sendereihe des Rosa Luxemburg Clubs Wiesbaden, Redaktion: Brigitte Forßbohm, Dr. Michael Forßbohm, Radio Rheinwelle: In Wiesbaden: 92,5 Mhz (UKW), 99,85 Mhz (Kabel) Internet livestream: www.radio-rheinwelle.de

Infos über die vollständige Sendereihe, Quellen und Literatur und Sendemanuskripte können Sie einsehen unter: https://www.brigitteforssbohm.de/russland-1917/

 

"Kornilow-Putsch" – ein Göttergeschenk

 

In der vorletzten Sendung haben wir darüber berichtet wie die so genannte „Kornilow-Affäre“ zum endgültigen Bruch zwischen Kerenski und der Armeeleitung sowie den hinter ihr stehenden konservativen Kräften führte. Kerenski war nun der Gnade des Petrograder Sowjets ausgeliefert. Die öffentliche Meinung richtete sich gegen Kerenski und die Provisorische Regierung, während die Bolschewiki wieder an Einfluss gewannen. Die bolschewistischen Führer, die im Juli verhaftet worden waren, kamen frei. Der russisch-amerikanische Historiker David Shub resümiert: „Kornilows verunglückter Putsch war für die bolschewistische Sache ein Göttergeschenk gewesen, das ihnen weit mehr zurückgab als sie im Juli eingebüßt hatten. Der bolschewistische Einfluss bei den Soldaten, Arbeitern und Bauern nahm mit großer Beschleunigung zu.“1)


Lenin äußerte sich selbst zu den Vorgängen am 30. August:

 

Die Kornilow-Revolte bedeutete eine unglaublich jähe Wendung im Lauf der Ereignisse. „Wie jede jähe Wendung erfordert auch diese eine Revision und eine Änderung der Taktik.“2) Und dies war nun die Orientierung auf einen von den Bolschewiki angeführten bewaffneten Aufstand. Andererseits eröffnete der wachsende Einfluss der Bolschewiki in den Räten – sie hatten mit Trotzki an der Spitze die Mehrheit im Petrograder Sowjet erlangt – die von Lenin vorübergehend auch erwogene Möglichkeit, einer Übernahme der Regierungsmacht durch die Räte. Dies hätte jedoch bedeutet, eine Regierung in Koalition mit den anderen in ihnen vertetenen Parteien zu bilden.

 

Orlando Figes schreibt dazu:

 

In der ersten Septemberhälfte zeichnete sich die Möglichkeit ab, „daß die großen sozialistischen Parteien von den Volkssozialisten auf der Rechten bis zu den Bolschewiki auf der Linken, sich zusammentun könnten, um eine Regierung zu bilden, die sich ausschließlich auf die Räte und die anderen demokratischen Organisationen stützte. Es war ein einzigartiger historischer Moment, eine flüchtige Chance für die Revolution, doch noch einen anderen Verlauf zu nehmen ...“ 3)

 

Lenin unterstützte noch Anfang September Kamenew in seinen Bemühungen, die Menschewiki und und Sozialrevolutionäre unter der Losung „Alle Machten den Räten!“ zur Bildung einer gemeinsamen sozialistischen Regierung zu bewegen.

 

Am 14. September tagte eine „Demokratische Konferenz“ im Alexander-Theater in Petrograd, wo die Möglichkeiten einer Übergangsregierung bis zur Konstituierenden Versammlung unter Federführung des Petrograder Rats sondiert werden sollten. Diese Konferenz scheiterte jedoch erbärmlich.

 

Von da an orientierte Lenin auf einen bewaffneten Aufstand, und zwar vor der Tagung des Allrussischen Sowjetkongresses, den Kerenski zum 20., später dann zum 25. Oktober einberief. Dieser sollte mit der Bildung einer neuen, von den Bolschwiki angeführten Regierung vor vollendete Tatsachen gestellt werden.

 

Das Zentralkomitee der Bolschewiki war mittlerweile in den Smolny, Raum 36 eingezogen und tagte dort in Permanenz, und zwar hinter verschlossenen Türen. Der Smolny war scharf bewacht, es war nicht einfach dort hineinzukommen, auch für Trotzki nicht. John Reed, selbst im Besitz eines Ausweises, der ihm den Zugang ermöglichte, schildert eine Szene, wie Trotzki mit seiner Frau am Betreten des Smolny gehindert wurde, weil er seinen Ausweis vergessen hatte. 4)

 

Im Smolny hatte John Reed dann Gelegenheit zu einem Interview mit Trotzki, in dem dieser die gegenwärtige Situation einschätzte: „Die Kompromissler und Pazifisten, Sozialrevolutionäre und Menschewiki, haben allen Kredit bei den Volksmassen verloren; denn der Kampf zwischen Bauern und Gutsbesitzern, Arbeitern und Kapitalisten, Soldaten und Offizieren ist heute schärfer und unversöhnlicher denn je. Nur die vereinte Aktion der Volksmassen“, könne mit dem „Sieg der proletarischen Diktatur“ die Revolution vollenden und das Volk retten. 5)

In Bezug auf die Außenpolitik einer neuen Regierung hatte er die weitblickende Vision einer föderativen Republik von Europa, „die Vereinigten Staaten von Europa – das ist, was werden muss. Nationale Autonomie genügt nicht mehr.“

 

Lenin orientiert auf den bewaffneten Aufstand

 

Doch zurück zu den Vorgängen in Petrograd:

Eine wichtige Voraussetzung für eine Übernahme der Macht war die Bildung des Militärisch-Revolutionären-Komitees Petrograds (MRKP), das auf Beschluss des Petrograder Sowjets unter Trotzki gebildet wurde. Die unter seinem Befehl stehenden Truppen umfassten wenige tausend Soldaten der Petrograder Garnison, der Kronstädter Marine, der dem MRKP beigetretenen Roten Garden sowie wenige Hundertschaften aus den Arbeiterkomitees stammender, militanter und bewaffneter Bolschewiki.

 

Lenin war in die Hauptstadt zurückgekehrt und hielt sich in der Wohnung einer Parteifunktionärin, Margarita Fofanowa, versteckt. Von dort aus berief er ein geheimes Treffen des Zentralkomitees der Bolschewiki, in der Wohnung des Menschewiken Suchanow ein, dessen Frau Bolschewikin war. Von den 21 Mitgliedern des ZK waren nur 12 anwesend. Dort wurde der Beschluss zum bewaffneten Aufstand gegen die Stimmen Kamenews und Sinowjews gefasst. Figes kommentiert: „Wieder einmal hatte Lenin es geschafft, den übrigen Parteiführern seinen Willen aufzuzwingen. Ohne seinen entscheidenden persönlichen Einfluß läßt sich die Machtergreifung durch die Bolschewiki nicht erklären.“ 6)

Doch Lenin hatte noch Überzeugungsarbeit zu leisten. Eine weitere Tagung des Zentralkomitees der Bolschewiki fand am 16. Oktober im Smolny statt. Lenin war verkleidet dorthin gelangt. Die Vertreter der bolschewistischen Militärorganisation, des Petrograder Rats, der Gewerkschaften und der Fabrikkomitees waren anwesend. Sie warnten alle vor einem Aufstand zu einem Zeitpunkt vor dem Allrussischen Kongress. Selbst unter den Metallarbeitern sei eine bolschewistische Erhebung nicht populär und Gerüchte darüber könnten sogar Panik hervorrufen.

Kamenew zog daraus den logischen Schluss, dass es keinerlei Beweis für die Notwendigkeit gebe, vor dem 20. Oktober loszuschlagen. Doch Lenin bestand auf der Notwendigkeit sofortiger Vorbereitungen und sah keinen Grund, wegen der vorsichtigen Meldungen über die Stimmung der Petrograder Massen zu zögern. Figes schreibt:

„Für einen militärischen Staatsstreich – so verstand er die Machtübernahme – brauchte man nur eine kleine Kampftruppe, vorausgesetzt, sie war gut bewaffnet und ausreichend diszipliniert. Lenins Einfluß war in der Partei derartig dominierend, daß er sich durchsetzte. Eine Gegenresolution von Sinowjew, die eine Erhebung, bevor man die bolschewistischen Delegierten auf dem Rätekongress konsultiert hatte, verbieten wollte wurde mit 15 gegen 6 Stimmen abgelehnt. 7)

 

Kamenew unbd Sinowjew widersetzen sich Lenins Aufstandsplan

 

Kamenew und Sinowjew gaben daraufhin eine Erklärung über ihre Positionen im ZK der Bolschewiki zur Frage des bewaffneten Aufstand ab, die sie sie dem Petrograder Komitee, dem Moskauer Komitee, dem finnländischen Gebietskomittee der SDAPR und anderen zuleiteten. Darin heißt es:

 

„Es wird gesagt: 1) für uns ist schon die Mehrheit des Volkes in Rußland und 2) für uns ist die Mehrheit des internationalen Proletariats. O weh! – weder das eine noch das andere stimmt, und darum geht es ja.

In Rußland ist die Mehrheit der Arbeiter und ein bedeutender Teil der Soldaten für uns. Aber alles andere steht in Frage. Wir alle sind uns beispielsweise sicher, daß die Bauern mehrheitlich für die Sozialrevolutionäre stimmen würden, wenn es jetzt um die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung ginge. Ist das etwa ein Zufall? Die Soldatenmassen unterstützen uns nicht wegen der Losung des Krieges, sondern wegen der Losung des Friedens. Sollten wir, wenn wir jetzt die Macht allein ergreifen würden, vor die Notwendigkeit gestellt sein (kraft der Weltlage), einen revolutionären Krieg führen zu müssen, würden sich die Soldatenmassen von uns abwenden (...)“ Und weiter:

„Der Sowjetkongress (...) muss um jeden Preis einberufen werden. Er muss den wachsenden Einfluß der proletarischen Partei organisatorisch verankern. Er muß das Zentrum für den Zusammenschluß aller proletarischen und halbproletarischen Organisationen, sowie der Gewerkschaften der Eisenbahner, der Postangestellten, der Bankangestelllten usw. um die Sowjets werden. Noch gibt es keine stabile organisatorische Verbindung zwischen diesen Organisationen und den Sowjets. (...) Eine derartige Verbindung indes ist in jedem Falle Vorbedingung für die tatsächliche Umsetzung der Losung Alle Macht den Sowjets! Für den gegenwärtigen Zeitpunkt bedeutet diese Losung natürlich – entschiedenster Widerstand gegen einen noch so kleinen Angriff (...) auf die Rechte der Sowjets und der von ihnen aufgebauten Organisationen.

Unter diesen Bedingungen würde die Fragestellung nach dem Übergang der Macht in die Hände der proletarischen Partei – jetzt oder nie – eine grundlegende historische Umwahrheit sein (...)

Gegen diese unheilvolle Politik erheben wir warnend unsere Stimme.

G. Sinowjew

Ju. Kamenew“ 8)

 

Lenin reagierte wütend auf diese Erklärung. Kamenew, er hatte mittlerweile seinen Rücktritt aus dem ZK eingereicht, brachte seine Ansichten obendrein am 18. Oktober in der Zeitung Maxim Gorkis, Nowaja Shisn, an die Öffentlicheit und deckte damit die bolschewistische Verschwörung auf. Um Zeit zu gewinnen verschob Kerenski daraufhin den Allrussischen Rätekongress nochmal um fünf Tage auf den 25. Oktober.

 

Mit dem Aufstand vollendete Tatsachen geschaffen

 

Als der Kongress dann am 25. Oktober schließlich zustande kam, war es den Bolschewiki gelungen, vollendete Tatsachen zu schaffen.

Lenin hatte auf dem Zeitpunkt für den Aufstand vor Beginn des Allrussischen Sowjetkongresses bestanden. John Reed berichtet über eine weitere Sitzung der bolschewistischen Führer im Smolny. Im Korridor hörte er, was vorging:

 

Lenin fand den 24. Oktober zu früh für einen Aufstand. Er sagte: „,Wir benötigen für die Erhebung eine allrussische Basis, und am 24. Oktober werden noch nicht alle Delegierten auf dem Kongreß erschienen sein. Der 26. Oktober wäre dagegen zu spät. Bis dahin wird sich der Kongreß konstituiert haben, und für eine umfangreiche Körperschaft ist es schwer, schnell und entscheidend zu handeln. Wir müssen am 25. Oktober in Aktion treten, wenn der Kongreß zuusammentritt, damit wir ihm sagen können: Hier ist die Macht ...’

Währendem saß in einem der oberen Zimmer ein Mensch mit langem Haar und hagerem Gesicht, ein ehemaliger Zarenoffizier und späterer Revolutionär, der lange in der Verbannung gelebt hatte: ein gewisser Owsejenko, allgemein Antonow gerufen, Mathematiker und Schachkünstler, damit beschäftigt, sorgfältig ausgearbeitete Pläne für die Einnahme der Hauptstadt zu entwerfen.“ 9)

 

Über den Vorabend des 25. Oktober schreibt Trotzki:

„Die Hauptoperationen begannen gegen zwei Uhr morgens. Kleine Soldatengruppen, gewöhnlich mit einem Kern bewaffneter Arbeiter oder Matrosen, unter der Leitung von Kommissaren besetzten gleichzeitig oder nach und nach die Bahnhöfe, das Hauptelektrizitätswerk, die Arsenale und die Proviantspeicher, die Wasserwerke, die Palastbrücke, die Telefonzentrale, die Staatsbank, die großen Druckereien und bemächtigten sich des Telegrafenamtes und der Post.“ 10)

John Reed berichtet, dass geschossen wurde:

„Gegen vier Uhr morgens traf ich Zorin im Vestibül mit einem Gewehr über der Schulter: ,Es geht los, sagte er in ruhigem, aber zufriedenen Ton. Wir haben den Stellvertreter des Justizministers und den Kultusminister verhaftet. Sie sind jetzt eingesperrt. Ein Regiment ist unterwegs, um die Telefonzentrale einzunehmen, ein zweites wird das Telegrafenamt besetzen und ein drittes die Staatsbank. Auch die Rote Garde marschiert.’

Auf den Stufen des Smolny-Instituts, in der Kühle der Nacht, sahen wir zum ersten Mal die Rote Garde, vertreten durch eine Gruppe junger Burschen in Arbeiterkleidung, mit Gewehren, das Bajonett aufgepflanzt, die nervös miteinander sprachen.

Über den Dächern gegen Westen hörten wir Schüsse fallen. Das waren die Kronstadter Matrosen. Sie schlossen die Nevabrücke wieder, die die Junker offen halten wollten, um die Soldaten und Fabrikarbeiter des Vyborgviertels daran zu hindern, sich mit den sowjetischen Kräften des Stadtzentrums zu vereinigen ...

Hinter uns summte der große Smolny, hell erlauchtet, wie ein gigantischer Bienenstock.“  11)

Vor diesem Hintergrund war die Verhaftung der Provisorischen Regierung kein großer Akt mehr. Sie tagte im Winterpalast. Das Petrograder Regiment hatte sich dem Militärischen Komitee unterstellt, die Regierung war damit ohne militärischen Schutz. Auch die Peter-und-Pauls-Festung war in der Hand der Aufständischen. Der Winterpalast selbst war von Offizierschülern und Junkern nur unzureichend bewacht.

 

John Reed schildert die Stimmung in den Straßen Petrograds:

 

„Auf dem Newski rauften sich die Menschen in dem trüben Zwielicht um die neuesten Zeitungen, und ganze Menschenknäule waren bemüht, die zahllosen Aufrufe und Proklamationen zu entziffern, mit denen jedes irgendwie geeignete Plätzchen beklebt war: vom Zentralexekutivkomitee der Sowjets bis zum Bauernsowjet, von den „gemäßigten“ sozialistischen Parteien, den Armeekomitees – alle baten, drohten und beschworen die Arbeiter und Bauern, zu Hause zu bleiben und die Regierung zu unterstützen.

Ein Panzerauto fuhr langsam auf und nieder, unaufhörlich hupend. An jeder Straßenecke, auf jedem Platz waren undurchdringliche Menschenmassen versammelt, diskutierende Soldaten und Studenten. Die Dunkelheit senkte sich mit großer Schnelligkeit herab, in weiten Zwischenräumen flammten Straßenlaternen auf, und immer noch fluteten in endlosen Wogen die Menschenmassen. So ist es immer in Petrograd wenn etwas in der Luft liegt.

Die Stadt war in höchster nervöser Spannung. Jeder scharfe Laut ließ sie auffahren. Aber noch immer kein Zeichen von den Bolschwiki; die Soldaten blieben in ihren Kasernen, die Arbeiter in ihren Fabriken. Wir gingen in ein Kino in der Nähe der Kasaner Kathedrale, wo ein blutrünstiger italienischer Film von Leidenschaft und Intrige gezeigt wurde. In den vorderen Reihen saßen einige Soldaten und Matrosen, die in kindlicher Verwunderung auf die Leinwand starrten, unfähig, den Sinn und die Notwendigkeit von soviel Aufregung und Blutvergießen zu begreifen.“ 12)

 

Über die Einnahme des Winterpalasts berichtet ein Matrose:

 

„Gegen 11 Uhr merkten wir, daß keine Junker mehr auf der Nevaseite waren. Darauf brachen wir die Türen auf und drängten uns auf verschiedenen Treppen einzeln oder in kleinen Gruppen hinein. Oben auf den Treppen wurden wir von Junkern angehalten und entwaffnet. Aber es kamen immer mehr von unseren Genossen und wir waren bald in der Übermacht. Dann war die Reihe an uns, den Junkern die Waffen abzunehmen.“ 13)

 

John Reed schreibt über die Verhaftung der Mitglieder der Provisorischen Regierung:

 

„Die Junker vor den letzten bewachten Türen werden entwaffnet. Die Sieger dringen in den Ministersaal ein: ,Ich erkläre Sie, die Mitglieder der Provisorischen Regierung für verhaftet’, verkündete Antonov feierlich im Namen des revolutionären Kriegskomitees. Die Uhr zeigte 2 Uhr 10 in der Nacht vom 25. zum 26. Oktober. ,Die Mitglieder der Provisorischen Regierung unterwerfen sich der Gewalt und ergeben sich, um Blutvergießen zu vemeiden’, antwortete der Handelsminister Konovalov. Der unvermeidliche Ritus wurde gewissenhaft beachtet.

Antonov wählte 25 bewaffnete Männer aus den ersten Abteilungen, die den Palast eingenommen hatten, und beauftragte sie mit der Bewachung der Minister. Die Gefangenen wurden, nach Aufnahme eines Protokolls , nach draußen, auf den Platz geführt. In der Menge, die Opfer zu beklagen hat, Tote oder Verwundete, bricht eine regelrechte Wut gegen die Besiegten aus. ,Erschießt sie! Schlagt sie tot!’ Einige Soldaten versuchen, die Minister zu schlagen. Die Rotgardisten reden auf die entfesselten Menschen ein: ,Beschmutzt doch nicht den proletarischen Sieg!’ Die bewaffneten Arbeiter umzingeln die Gefangenen und ihre Begleitmannschaft eng. ,Vorwärts, marsch!’ Es ist nicht weit zugehen, nur durch die Millionnajastraße und über die Troickijbrücke. Aber die Gereiztheit der Menge macht diesen kurzen Gang lang und gefährlich. Der Minister Nikitin schrieb später nicht ohne Grund, die Folgen hätten ohne das energische Dazwischentreten von Antonov sehr peinlich werden können. Um das Mißgeschick vollzumachen, wird der Zug auf der Brücke versehentlich beschossen. Die Gefangenen und die Begleitmannschaft werfen sich der Länge nach auf den Damm. Aber es gab keine Opfer. Wahrscheinlich wurde in die Luft geschossen, um die Leute zu ängstigen. (...) Nachdem (in der Festung) die letzen Formalitäten erfüllt sind, werden die Gefangenen in die Zellen der historischen Trubeckojbastei geführt.“ 14)

 

Kerenski war nicht unter den Gefangenen, er konnte fliehen.

 

Orlando Figes schildert wie Lenin die Liste der Mitglieder der neuen Regierung mit seinen Getreuen in einer Beratungspause erstellte, während sie auf die Verhaftung der Provisorischen Regierung warteten.

„Die Bezeichnung Provisorische Regierung, fand man, klinge überholt, während es viel zu bürokratisch und respekteinflößend schien, sich selbst als Minister zu titulieren. Schließlich verstanden sich die Bolschewiki gern als Kampforganisation (...) Es war Trotzki, der auf die Idee kam, die Minister nach dem Vorbild der Jakobiner Volkskommissare zu nennen. Allen gefiel der Vorschlag. ,Ja, das ist sehr gut’, sagte Lenin, ,es riecht nach Revolution. Und die Regierung selbst können wir dann Rat der Volkskommissare nennen.’“ 15)

 

Am Abend des 25. Oktober begann der 2. Allrussische Sowjetkongress mit Vertretern von mehr als 400 örtlichen Sowjets und tagte bis in die frühen Morgenstunden des 26. Oktober vor dem Hintergrund des bewaffneten Aufstands der Bolschewiki. Die Aufständischen Bolschewiki hatten zwar keine absolute Mehrheit, aber die Möglichkeit, zusammen mit den linken Sozialrevolutionären ihre Anträge durchzubringen. Auf dem Kongress zeichnete sich zunächst eine Mehrheit für die Bildung einer Räteregierung ab. Der Sprecher der Menschewiki, Julius Martow, schlug die Bildung einer vereinigten demokratischen Regierung mit den in den Räten vertretenen Parteien vor. Dies sei die einzige Möglichkeit, einen Bürgerkrieg abzuwenden. Dieser Vorschlag fand tosenden Beifall. Auch die Bolschewiki, die sich die Losung „Alle Macht den Räten!“ zueigen gemacht hatten, konnten hier nicht widersprechen. Der Kongress nahm eine jähe Wendung als einige Menschewiki und Sozialrevolutionäre sich von dem laufenden Aufstand als „kriminelle Unternehmung“ distanzierten und unter Protest den Saal verließen. Am formalen Ablauf des Kongresses änderte sich dadurch nichts, aber der Kompromiss einer auf den Räten basierenden demokratischen Regierung wie Martow sie vorgeschlagen hatte, kam nun nicht mehr zustande.

Trotzki triumphierte unter dem Beifall der Bolschewiki: „... unser Aufstand hat gesiegt.“ Warum und mit wem jetzt Kompromisse schließen? Den Weggegangenen rief er nach:

„... Ihr seid elende Bankrotteure, ihr habt ausgespielt; schert euch hin, wohin ihr von nun an gehört: auf den Kehrichthaufen der Geschichte!“

Auch Martow verließ daraufhin wutentbrannt den Kongress. Lenins Rechnung der Provokation und der Schaffung vollendeter Tatsachen war aufgegangen. 16)

 

"Rat der Volkskommissare" – Jubel und Kritik

 

Reed schildert wie nach etlichen Pannen der Winterpalast schließlich um zwei Uhr früh eingenommen und die Provisorische Regierung verhaftet worden war, Kamenew um halb drei Uhr morgens das Dekret über die Konstituierung der Regierung verlas:

„Zur Verwaltung des Landes wird bis zur Einberufung der Konstituierenden Versammlung eine provisorische Arbeiter- und Bauernregierung gebildet, die den Namen Rat der Volkskommissare führt. Die Leitung der einzelnen Zweige des staatlichen Lebens wird Kommissionen übertragen, deren Zusammensetzung die Durchführung des vom Kongreß verkündeten Programms ermöglichen muß (...) Die Kontrolle über die Tätigkeit der Volkskommissare sowie das Recht der Absetzung steht dem Allrussischen Kongreß der Sowjets der Arbeiter-, Bauern-, und Soldatendeputierten und seinem Zentralexekutivkomitee zu.“

Noch immer tiefe Stille. Und dann, als Kamenew die Liste der Kommissare verlas, stürmischer Jubel nach jedem Namen, vor allem nach Lenins und Trotzkis.“ 17)

 

Trotz des Jubels hatten nicht alle der Bildung des Rats der Volkskommisare zugestimmt.

So erklärte Karelin im Namen der linken Sozialrevolutionäre: Wir können keine Regierung unterstützen, die nicht eine Regierung der sozialistischen Koalition ist.“ 18)

 

Es war vor allem der Vertreter des Allrussischen Exekutivkomitees des Eisenbahnerverbands Wikshel, der am Ende des Allrussischen Sowjetkongresses einige Wermutstropfen in die allgemeine Begeisterung goß.

Reed schildert wie Kamenew einem Delegierten das Wort gab,

„... einem stämmigen Menschen mit dem Ausdruck unversöhnlicher Feindschaft in seinen grobknochigen Zügen. Was er sagte, wirkte wie eine Bombe:

,Ich spreche hier im Namen der stärksten Organisation Rußlands und habe den Auftrag, euch die Beschlüsse des Wikshel zur Frage der Konstituierung der Macht bekanntzugeben. Wir lehnen es ab, die Bolschewiki zu unterstützen, solange sie fortfahren, sich von der gesamten Demokratie Rußlands zu isolieren!’ Ungeheurer Tumult im Saal.

,1905 und in den Kornilowtagen waren die Eisenbahner die energischsten Verteidiger der Revolution. Aber ihr habt uns zu eurem Kongreß nicht eingeladen (...) wir erkennen die Rechtmäßigkeit des Kongresses nicht an. Seit dem Ausscheiden der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre bestehen die Voraussetzungen für die Legalität der hier gefaßten Beschlüsse nicht mehr. Der Verband unterstützt das alte Zentralexekutivkomitee und erklärt, daß der Kongreß kein Recht hat, ein neues Komitee zu wählen.

Die Staatsmacht muß eine sozialistische und revolutionäre Macht sein, verantwortlich den autorisierten Organen der gesamten revolutionären Demokratie. Bis zur Bildung einer solchen Macht verbietet der Verband der Eisenbahner, der den Transport konterrevolutionärer Truppen nach Petrograd verweigert, gleichzeitig die Ausführung jeglicher Befehle, die, von wem auch immer, ohne Zustimmung des Wikshel erlassen werden.’“ 19)

 

Ein wilder Entrüstungssturm setzte ein, die Rede war ein schwerer Schlag. Kamenew antwortete kurz, die Rechtmäßigkeit des Kongresses könne nicht angezweifelt werden, da die Zahl der anwesenden Delegierten immer noch die vorgesehene Mindestzahl überschreite.

 

„Darauf erfolgte die Abstimmung über die Konstituierung der Regierung, die mit ungeheurer Mehrheit den Rat der Volkskommissare bestätigte.

Die Wahl des neuen Zentralexekutivkomitees, des neuen russischen Parlaments, nahm kaum fünfzehn Minuten in Anspruch. Trotzki teilte seine Zusammensetzung mit: Hundert Mitglieder, davon siebzig Bolschewiki. Die Sitze der Bauern und der ausgeschiedenen Parteien sollten diesen reserviert bleiben. ‚Der Regierung sind alle Parteien und Gruppen angenehm, die bereit sind, unser Programm zu akzeptieren.’ Mit diesen Worten schloß Trotzki.“ 20)

 

Literatur und Quellen:

 

1) Shub, David: Lenin, Wiesbaden 1952, S. 251.

2) Zitiert nach Shub, S. 251 f.

3) Figes, Orlando: Die Tragödie eines Volkes, London 1996, München 2001, S. 490 ff.

4) Reed, John: 10 Tage, die die Welt erschütterten, Berlin 1957, S. 91.

5) Reed, S. 92 ff.

6) Figes, S. 499.

7) Figes, S. 504.

8) Dokument 104. Aus der Erklärung von G. J. Sinowjew und L. B. Kamenew zur Orientierung des ZK der bolschewistischen Partei auf den bewaffneten Aufstand. In: Die Russische Revolution 1917. Herausgegeben, eingeleitet, kommentiert und übersetzt von Wadislaw Hedeler, Horst Schützler und Sonja Striegnitz. Berlin 1997.

9) Reed, S. 99.

10) Kohn, Richard. Hg. Die Russische Revolution in Augenzeugenberichten, Düsseldorf 1964, S. 350.

11) John Reed, Dix jours qui ébranlèrent le Monde, Paris, 1927, zit nach Kohn, Augenzeugenberichte, S. 349.

12) Reed, S. 103.

13) Kohn, Augenzeugenberichte, S. 350.

14) John Reed, Dix jours qui ébranlèrent le Monde, Paris, 1927, zit nach Kohn, Augenzeugenberichte, S. 350 ff.

15) Figes, S. 512.

16) Figes, S. 517 ff.

17) Reed, S. 195.

18) Reed, S. 199.

19) Reed, S. 201.

20) Reed, S. 203.

 

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