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Sackgasse Friedensbewegung

Nach nun fast zwei Jahren Krieg in der Ukraine hat es die „Friedensbewegung“, soweit sie durch die „Friedenswerkstatt“, den „Friedensratschlag“, oder auch durch die „Ukraine-Initiative Die Waffen nieder!“ repräsentiert wird, nicht einmal vermocht, den Aggressor klar zu benennen. Kein Wort über die menschenverachtende Kriegführung, über das Arsenal des Terrors gegen die Zivilbevölkerung mit massiven Luftangriffen auf ukrainische Städte, auf Wohngebiete und die Infrastruktur, über die Millionen von Geflüchteten und die Entführung von 20000 ukrainischen Kindern. Kein Wort zur Zerstörung medizinischer Versorgungseinrichtungen wie eines Zentrums für Bluttransfusion, zu den gezielten Angriffen auf Märkte und Trauerfeiern, ebenso wenig zu Angriffen auf Getreidelager in ukrainischen Häfen. Über Gräueltaten der russischen Armee in Butscha und andernorts wird geschwiegen, wenn sie nicht unter vorgehaltener Hand als nun mal kriegsbedingt oder als westliche Propagandalügen angezweifelt werden. Keine Kritik auch an den von Willkür geprägten Zuständen in den annektierten „Volksrepubliken“, der Vertreibung und Internierung von Bewohner*innen, die loyal zum ukrainischen Staat stehen. Die Forderung nach einem Abzug der Invasionstruppen von ukrainischem Territorium wird man vergeblich suchen. Auch das verbrecherische Wirken der Wagner-Söldner-Truppe entlockte den Friedensbewegten keinen Kommentar.

Im Aufruf zum Aktionstag am 3. Oktober 2023 „Die Waffen nieder – NEIN zum Krieg!“[1], ist zwar die Rede vom „völkerrechtswidrigen Einmarsch Russlands“, aber im gleichen Satz noch werden die „USA und die verbündeten NATO-Staaten“ in Verantwortung für die „Ausweitung und Verschärfung des Krieges“ genommen. „All diese Provokationen“ – gemeint sind Waffenlieferungen an die Ukraine – erhöhen das „Risiko einer atomaren russischen Reaktion.“ Das klingt in diesem Kontext schon fast wie eine Drohung.

„Waffenlieferungen“ werden pauschal verurteilt, auch Flugabwehrsysteme, die ukrainische Städte vor der Zerstörungskraft russischer Drohnen und Raketen schützen, fallen darunter.

Es stellt sich doch die Frage, ob eine „Friedensbewegung“, die den Aggressor auf diese Weise ausblendet und schont, ihrer Aufgabe gerecht werden kann.

Im Umfeld der „Friedensbewegung“, in Artikeln und Konferenzen wird Russland in seiner Verantwortung für diesen Krieg durch immer dieselben Erzählungen entlastet. [2] Dazu gehört die „Vorgeschichte“, womit im Wesentlichen die „NATO-Osterweiterung“ gemeint ist, sowie die These vom „Stellvertreterkrieg“, den der „US-Imperialismus“ angeblich auf dem Boden der Ukraine gegen Russland führe. Auch die den USA angeblich hörige deutsche Bundesregierung, habe eine „große Mitschuld“ an allem, was in diesem Krieg passiert.

„Stoppt den Wahnsinn“, sagen wir „Friedensbewegte dieses Landes“, heißt es im oben genannten Aufruf. Diese Aufforderung richtet sich nicht etwa an den durchgeknallten Kriegsherrn im Kreml, nein, er ist adressiert an die Bundesregierung, die von den europäischen Ländern die meisten Waffen liefere und durch ihre Außenministerin verkünden lasse, man könne mit Russland nicht verhandeln.

Man kann an der Bundesregierung einiges kritisieren, aber sind solche Schuldzuweisungen angesichts der russischen Kriegsführung verhältnismäßig?

Die Ukrainer*innen und ihr Präsident Selensky spielen bei derartigen Einschätzungen gar keine Rolle. Sie können froh sein, wenn ihnen die inferiore Rolle des Opfers im „Stellvertreterkrieg“ zugewiesen wird. In den sozialen Medien werden sie von angeblich Friedensbewegten pauschal als „Nazis“ und „Verbrecher“ verunglimpft. Davon abgesehen verlangt man von der Ukraine – wie von Russland – die Einstellung der Kampfhandlungen, und zwar sofort und bedingungslos. Eingeräumt wird damit eine bedingungslose Kapitulation der Ukraine. Die Verantwortlichen im Kreml bleiben hingegen von öffentlichem Druck gegen ihre verbrecherische Kriegführung verschont.

 

„Es ist höchste Zeit für Friedenspolitik!“

 

Dem kann man nur zustimmen. Es hat jedoch schon vor dem Einmarsch und auch danach an diplomatischen Bemühungen auf höchster Ebene nicht gefehlt, um Putin von seinen Kriegsplänen abzubringen. Bisher ohne Erfolg.

Wäre es nicht vielmehr nötig, vor allem öffentlich Druck auf die Hauptverantwortlichen im Kreml auszuüben? – Dies würde eine Kritik am Aufrüstungsprogramm und den Waffenlieferungen der Bundesregierung nicht mal ausschließen.

Wenn man von der Bundesregierung zu Recht verlangt, sie solle sich für diplomatische Lösungen einsetzen, kann man doch die Haltung der Gegenseite nicht außer Acht lassen. Da ist keine Verhandlungsbereitschaft zu erkennen. Alle Gesprächs- und Verhandlungsangebote an den Kreml sind gescheitert.

Schon die beiden Vertragsentwürfe, die Putin im Dezember 2022 an die US-Regierung und die NATO schickte, waren wie im Weiteren deutlich wurde, Ultimaten und keine Vorschläge zu einer neuen europäischen Friedensordnung: Putin verlangte, die Truppen der Allianz müssten auf die Standorte von Mai 1997 zurückkehren. Das waren die Standorte zum Zeitpunkt der Unterzeichnung der NATO-Russland-Grundakte.[3] Wie sollte dies kurzfristig bewerkstelligt werden? Welcher der aktuellen NATO-Staaten wäre denn bereit gewesen, einem solchen Ultimatum, gestellt von einer säbelrasselnden Großmacht, zu folgen? Das Selbstbestimmungsrecht der osteuropäischen NATO-Staaten spielte bei dieser Forderung keine Rolle. Sie wurde daher von den Adressaten zurückgewiesen.

Die Gespräche, die nach dem russischen Angriff im Frühjahr 2022 Hoffnungen auf friedliche Lösungen erweckten, wurden nicht weitergeführt. Das äußerste, was sich Putin beim Vermittlungsversuch des damaligen israelischen Präsidenten Bennett in Gesprächen abringen ließ, war ein Verzicht auf „Denazifizierung“, was soviel wie Verzicht auf die Tötung Selenskys und die Absetzung seiner Regierung bedeutete.[4] Zum anderen sei Putin bereit gewesen, auf eine vollständige Entmilitarisierung der Ukraine zu verzichten. Selenskyj wiederum habe Bennett zugesichert, auf einen NATO-Beitritt verzichten zu wollen.[5] Nachdem die Gräuel von Butscha bekannt wurden, brachen die Gespräche ab. Die immer wieder aufgegriffene Behauptung, ein Abkommen im März 2022 sei durch westliche Intervention, insbesondere Boris Johnsons, verhindert worden, wird zwar von Benett angenommen, kann aber nicht belegt werden.[6]

Mit der Annexion von Donezk und Luhansk durch die Russische Föderation im September 2022 erteilte Putin dann eine klare Absage an Verhandlungen. Es wurden Fakten geschaffen; Putin verlangte nun den Verzicht der Ukraine auf ca. 20% ihres Territoriums (das sind für Putin die „Realitäten am Boden“) als Voraussetzung für Gespräche.

 

Spiel mit der Historie – der Zwei-plus-Vier-Vertrag

 

In der Abschlusserklärung des Kasseler Friedensratschlags vom Dezember 2022[7] als auch im Aufruf zum dezentralen Aktionstag der Friedensbewegung zum 3. Oktober 2023 ist die Rede vom Zwei-plus-Vier-Vertrag, der „als fundamentales Grundprinzip die Sicherheitsinteressen eines jeden Staates“ berücksichtige.

Nun ist es so, dass bei historischen Fragen viele nicht mehr so genau wissen, was wann, wo, unter welchen Umständen, von wem vereinbart wurde. Beim Zwei-plus-Vier-Vertrag, der zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik einerseits sowie Frankreich, der Sowjetunion, Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika andererseits am 12. September 1990 in Moskau unterzeichnet und am 15. März 1991 in Kraft trat[8], ist dies besonders kompliziert. Vertragspartner war die Sowjetunion, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens schon nicht mehr existierte. Die Rechtsnachfolge übernahm die Russische Föderation. Es ging darum, ob der Vertrag „die Stationierung fremder Truppen im östlichen Teil der Bundesrepublik Deutschland verbietet“, womit der Vertrag „die Option einer NATO-Erweiterung nach Osten“ ausschließe, so wie es der russische Präsident Jelzin in einem Brief an den US-amerikanischen Präsidenten Clinton im September 1993 darstellte. Formal war diese Interpretation problematisch, weil der Vertrag sich auf Deutschland allein und nicht auf andere osteuropäische Staaten bezog.[9] Von russischer Seite wird sich darüber hinaus auf zahlreiche mündliche Zusicherungen bezogen, im Kontext des Vertragsabschlusses auf eine Erweiterung der NATO nach Osten zu verzichten.

Von Bedeutung in diesem Kontext ist eine Protokollnotiz, nach der zwar ausländische Soldaten nach dem Abzug russischer Truppen aus Ostdeutschland weder stationiert noch verlegt werden durften, sich mit Erlaubnis der deutschen Regierung jedoch in der Region aufhalten konnten. Dies wurde von russischer Seite 1994 dahingehend interpretiert, dass der Zwei-plus-Vier-Vertrag, die Erweiterung der NATO östlich von Deutschland verbiete, da er zwar eine begrenzte Aktivität der Allianz auf dem Gebiet der ehemaligen DDR erlaubte, eine solche Aussage aber für andere Länder fehle.[10]

 

Auch die Autor*innen des Artikels vom 17.7.2023 „Ukrainekrieg – offene Fragen oder erbitterte Kontroversen“ folgen gewissermaßen der russischen Interpretation des Zwei-plus-Vier-Vertrags,[11] mit der Meinung, die Sowjetunion habe der deutschen Einigung nur unter dem Versprechen zugestimmt, dass es keine Osterweiterung der NATO über deren Territorium von 1989 hinaus gebe. Dies sei vertraglich nicht fixiert worden „... weil zum damaligen Zeitpunkt die Warschauer Vertragsgemeinschaft noch existierte.“ Die Perspektive der Erweiterung der NATO konnte noch nicht auf der Tagesordnung stehen.[12] Wie sollte auch zu diesem Zeitpunkt schon davon die Rede sein?

Am 8. Dezember 1991 hatten in der Ortschaft Wiskuli nahe der belarussisch-polnischen Grenze die Präsidenten der Sowjetrepubliken Russland, Ukraine und Belarus das sogenannte Beloweschje-Abkommen unterzeichnet, womit die „UdSSR als völkerrechtliches Subjekt sowie als geopolitische Realität“ ihre Existenz beendet hatte.

Die Russische Föderation hat in mehrfacher Beziehung die Rechtsnachfolge der UdSSR angetreten, so in der UNO und im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, was heute gerade auch im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine als problematisch gesehen werden muss. Problematisch, ja paradox, ist jedoch eine Sichtweise auf die Russische Föderation als Rechtsnachfolge der Sowjetunion im Hinblick auf die aus dem Warschauer Pakt ausgetretenen Staaten, von denen eine Treue zu einem nicht mehr existierenden Bündnis nicht erwartet werden kann. Dies muss umso mehr für nach der Auflösung der Sowjetunion gebildete souveräne Staaten gelten, von denen nicht erwartet werden kann, dass sie der Russischen Konföderation irgendwelche, aus Sowjetzeiten hergeleiteten Bündnisrechte einräumen. Auch aus diesem Grund kann der Zwei-plus-Vier-Vertrag für die spätere NATO-Osterweiterung nicht in Anspruch genommen werden.

Dass Abkommen nach Auflösung des Warschauer Pakts mit heute existierenden Staaten folgten, wird in den Auslassungen der Friedensbewegten verschwiegen. Auch in dem oben genannten Artikel vom 17.7.23 werden sie nicht erwähnt.

Von großer Bedeutung für das Verständnis des Konflikts und das Verhalten der Akteure ist das Budapester Memorandum von 1994 in dem die USA, Großbritannien und die Russische Föderation der Ukraine Sicherheit garantierten, nachdem sie völlig entwaffnet worden war.[13] Es begründet bis heute die Unterstützung der Ukraine durch die USA und Großbritannien. Gebrochen hat es die Russische Föderation, die vom Sicherheitsgaranten zum Aggressor wurde.[14] USA und Großbritannien halten sich weiterhin daran.

Des Weiteren wurde in der NATO-Russland-Grundakte 1997 die „Achtung der Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Unversehrtheit aller Staaten sowie ihres naturgegebenen Rechtes, die Mittel zur Gewährleistung ihrer eigenen Sicherheit sowie der Unverletzlichkeit von Grenzen und des Selbstbestimmungsrechts der Völker selbst zu wählen“ vereinbart.[15] Damit wurde das Recht osteuropäischer Staaten – die vorher dem Warschauer Pakt angehört hatten wie Polen, CSSR und Ungarn, als auch solcher, die Teil der UdSSR waren wie Estland, Lettland und Litauen –, der NATO beizutreten, verankert. Seitens der NATO wurde die Vereinbarung, auf die Stationierung „substantieller Truppen“ in diesen Ländern zu verzichten, bis jetzt eingehalten. Erst neuerdings wird im Zusammenhang mit dem Angriff auf die Ukraine der Plan verfolgt, 4000 deutsche Soldaten dauerhaft nach Litauen zu verlegen.[16]

Was einen von der Ukraine – nicht ohne Grund wie wir heute wissen – gewünschten und in der Verfassung verankerten Wunsch zum Beitritt der NATO betrifft, so ist diesem weder 2008 – trotz des vorübergehenden Drängens des damaligen amerikanischen Präsidenten George H. W. Bush – und bis heute seitens der Allianz nicht nachgekommen worden. Die Ukraine gehörte nie zu den Staaten, für die eine bevorzugte NATO-Mitgliedschaft in Betracht gezogen wurde. Selensky war bei den Sondierungen Anfang 2022, im Gespräch mit dem israelischen Präsidenten Bennett – die Zustimmung der Ukrainer*innen vorausgesetzt –, übrigens bereit, diesen Verfassungsauftrag zur Disposition zu stellen und auf eine NATO-Mitgliedschaft zu verzichten.

Auch der Beitrittswunsch Georgiens wurde 2008 abgelehnt. Russland hat hingegen u.a. 2008 Südossetien und Abchasien besetzt und 2014 die Krim annektiert. Diese von Putin damit – bewusst? – geförderten militärischen Konflikte führten dazu, dass die NATO-Regierungschefs den NATO-Russland-Rat[17] und „jede praktische Zusammenarbeit zwischen der NATO und Russland” aufgaben.[18] Besonders tragisch für die Ukraine wurde der Grundsatz der Allianz, keine Staaten als Mitglieder aufzunehmen, die in militärische Konflikte verwickelt sind.

Von einer Bedrohung der Russischen Föderation durch die NATO zu sprechen, ist vor diesem Hintergrund mehr als fragwürdig.

Die Autor*innen des Artikels vom 17.7.2023 stellen geopolitische Absichten der USA im Vordergrund. In Bezug auf die Russische Föderation ist dort zu lesen: „Putin und seine Umgebung mögen zwar der Sowjetunion und einem Großrussischen Reich nachtrauern, in allen Reden, Stellungnahmen und militärischen Aktionen ist jedoch nur ein Kriegsziel zu erkennen: die Sicherung Russlands vor der endgültigen Umzingelung mit NATO-Stützpunkten.“ Das klingt wie eine Rechtfertigung der Kriegsziele einer bedrohten Nation. Dieser Krieg ist jedoch offensichtlich kontraproduktiv in Bezug auf die behaupteten „Sicherheitsinteressen“ der Russischen Föderation: Das im April 2023 der NATO beigetretene, bisher neutrale Finnland hat eine 1340 km lange Grenze zur Russischen Föderation. Der Beitritt Schwedens ist auf dem Weg und die Ukraine ist nun militärisch so gut ausgerüstet wie nie zuvor. Ganz Europa, insbesondere die an die Russische Föderation angrenzenden Staaten, rüsten massiv auf. Staaten, die ehemals zur Sowjetunion gehörten, wurden in ihren Bestrebungen, westlichen Bündnissen beizutreten, bestärkt. Sollte Putin und seine Entourage dies wirklich nicht vorher gesehen haben?

Die Ukraine ist als völkerrechtliches Subjekt mit einem Recht auf territoriale Integrität und Souveränität in all diesen Auslassungen nicht vorhanden. Die Entsprechung findet sich in dem russischen Narrativ, das der Ukraine eine eigene Staatlichkeit abspricht. Überhaupt spielt das Völkerrecht für die Autor*innen des oben genannten Artikels als auch in den Aufrufen der Friedensinitiativen keine Rolle.

 

Relikt der Entspannungspolitik: Aufteilung Europas in Einflusszonen?

 

Das Denken, das hinter diesen die „Sicherheitsinteressen“ Russlands betonenden Ausführungen steht, ist teilweise verankert in der Entspannungspolitik der 1970er Jahre.

Besonders deutlich zeigt sich dies im Aufruf „Frieden schaffen!“, der für sich in Anspruch nimmt, eine Friedensinitiative „aus der Mitte der Gesellschaft“ zu sein. Initiatoren sind Peter Brandt, Reiner Braun, Reiner Hoffmann und Michael Müller.[19]

Peter Brandt erklärt im FR-Interview vom 14.06.23, dass es ihm darum gehe, dass „der entspannungspolitische Ansatz” der Ostpolitik seines Vaters Willi Brandt nicht baden gehe.[20] Dieser Aufruf, unterzeichnet von vielen prominenten Persönlichkeiten aus SPD und Gewerkschaftsbewegung, bekennt sich ausdrücklich zur Friedens- und Entspannungspolitik im Geiste der Schlussakte von Helsinki und der Charta von Paris. Der Aufruf, benennt den „russischen Angriffskrieg” als solchen – wenn er ihn auch nicht verurteilt –, und bekennt sich zum Völkerrecht: nur auf dessen Grundlage und nur mit Russland könne Frieden geschaffen werden. Er unterscheidet sich damit deutlich von dem von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer initiierten so genannten „Manifest für den Frieden”.[21]

Die seit den 1960er Jahren betriebene Entspannungspolitik sah und akzeptierte eine Welt, die in Einflusszonen aufgeteilt war. Das korrespondierende Prinzip der „Nichteinmischung“ machte ein westliches, gar militärisches Eingreifen bei Aufständen und organisiertem Widerstand gegen das Sowjetregime seitens der Westmächte undenkbar. Die Staaten des Warschauer Pakts wurden als zur sowjetischen Einflusszone zugehörig angesehen, eine Einmischung in deren Angelegenheiten und Konflikte ausgeschlossen, auch wenn der sowjetische Hegemon wie in der CSSR 1968 direkt militärisch eingriff und in Polen 1982 durch militärische Drohung einen Regierungswechsel erzwang. Dies funktionierte, solange die Sowjetunion existierte und war als eine den Realitäten in Europa Rechnung tragende Entspannungspolitik wohl auch geboten.

Mit der Auflösung der Sowjetunion kollidierte dies jedoch mit den Interessen alter und neuer souveräner Staaten in Osteuropa, wenn sie neue Identitäten und Bündnisse suchten. Inwieweit dies konform ging mit US-amerikanischen Interessen – oder auch nicht –, ist eine andere Frage. Die Entschlossenheit und Vehemenz, mit der osteuropäische Staaten in die NATO drängten, hat wohl mehr mit der – wie wir heute wissen –, nicht unbegründeten Furcht vor Übergriffen seitens der Großmacht im Osten zu tun als mit US-amerikanischen Wünschen nach einer NATO-Osterweiterung.

Aktuell ist die Unterstützung der Ukraine im politischen Spektrum der USA zunehmend umstritten, womit geopolitische Bestrebungen der USA als Hauptmotiv für die Unterstützung der Ukraine in Frage stehen. Auch dass an Russland angrenzende, traditionell neutrale Staaten wie Finnland und Schweden in die NATO streben, dürfte weniger mit US-amerikanischer Geopolitik als mit den Ansprüchen der Russischen Föderation auf Einflusszonen in Europa und ihrer offensichtlichen Bereitschaft, diese auch militärisch durchzusetzen, zu tun haben.

 

Motive des Putin-Regimes für den Krieg in der Ukraine

 

Der in keiner Weise, schon gar nicht völkerrechtlich, zu rechtfertigende Anspruch der Russischen Föderation auf Einflusszonen in den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion spielt sicher eine Rolle. Dies ist aus den Geschichtslegenden Putins und der russischen Propaganda deutlich herauszulesen.

Die Autor*innen des Artikels vom 17.7.23 schreiben: Die Sicherheitsinteressen Russlands „richten sich nach dem Ende der Sowjetunion in erster Linie auf die unmittelbar an das russische Territorium angrenzenden Staaten, insbesondere jene mit Blick zur EU, mit der Kooperation und gutnachbarliche Beziehungen angestrebt wurden, und die kaspische Konfliktregion. Um ihre Vormachtstellung im postsowjetischen Raum zu gewährleisten, strebt die russische Regierung eine möglichst enge politische, wirtschaftliche, aber auch militärische Zusammenarbeit an.“ Vor diesem Hintergrund seien die aktuellen Kriegsziele Russlands zu sehen.[22]

Den Wunsch nach gutnachbarlichen Beziehungen und „enge politische, wirtschaftliche, aber auch militärische Zusammenarbeit“ mit aktuellen „Kriegszielen“ in Zusammenhang zu bringen, ist schon ein starkes Stück. Sie sollen sich also fügen müssen, die Schönen, ob es ihnen gefällt oder nicht ...?[23]

Andere Motive des Putin-Regimes werden weniger deutlich oder gar nicht ausgesprochen. Nach dem Friedensforscher Andreas Hasenclever geht die Bedrohung Russlands nicht von der NATO aus, „sondern von sozialen Veränderungen – wie den Demokratisierungsbewegungen in Belarus und der Ukraine ...” Kasachstan, Georgien, und Moldau wären zu ergänzen.

„Russland musste befürchten, dass der Funke ins eigene Land überspringt. Hinzu kommt die Globalisierung, bei der Russland droht, den Anschluss zu verlieren. Diese Entwicklungen fordern das Regime heraus, und es scheint darauf nur mit einer imperialistischen Politik des 19. Jahrhunderts antworten zu können. Das muss scheitern, mit furchtbaren Folgen ...“[24]

Hasenclever meint, dass Putin nicht erwartet habe, dass der Westen ihm mit vereinter Kraft geschlossen entgegentreten würde.

Dafür spricht, dass die NATO an Bedeutung verloren hatte. Selbst das von Bundeskanzlerin Merkel regierte Deutschland ging nur zögerlich an das von den USA erwartete 2%-Ziel für Rüstungsausgaben heran. Der französische Präsident Macron betrachtete im November 2019 noch die NATO als „hirntot“ und auch das Interesse der USA an der NATO hatte, vor allem unter Präsident Trump, merklich nachgelassen. All dies mag die Hoffnung des Putin-Regimes auf einen schnellen Sieg beflügelt haben.

Der ukrainische Historiker Igor Torbakow weist auf „die ideellen Aspekte des Wandels im internationalen Verhalten des Kremls“ hin.[25] Er sieht ein „mentales Abrücken von Europa“. Es sei von einer „eigenständigen Zivilisation“ Russlands die Rede, die sich von der europäischen unterscheide. Torbakow zitiert den dem Kreml nahe stehenden Politikwissenschaftler Sergej Karaganow, der vom Niedergang Europas spreche, das nun ein kritisches Stadium erreicht habe. Abgelehnt werden die „neuen europäischen Werte“ und „Ideologien“ wie offensive Demokratieförderung, Minderheitenrechte, Feminismus, LGBTQI, Black Lives Matter, MeToo, all das sei „toxisch“ und des Teufels. Konservative in Russland erregten sich über die „Tyrannei von Minderheiten“, die sie in Europa ausmachen wollen, und „westliche Gesinnungsdiktatur“. Regierungsnahe Kommentatoren wie Karaganow sehen Russland historisch als „autoritären Staat“ und festgelegt auf ein autoritäres Regierungssystem. Was den „grimmigen Männern im Kreml“ jedoch im Kern Kopfzerbrechen bereite, so Torbakow, seien die grundlegenden Werte der EU: Menschenwürde und Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Toleranz.

Auch wenn diese Werte in Europa nicht so verwirklicht sind, wie es wünschenswert wäre, macht es doch einen Unterschied, ob man Defizite und Widersprüche zu diesen Idealen benennen kann, oder ob sie von vornherein in die Tonne getreten werden wie derzeit in Russland. Demokratie muss immer wieder erkämpft werden. Noch herrschen in Europa Bedingungen, unter denen dies möglich ist. Polemiken gegen den „Wertewesten“ und Schulterklopfen mit autoritär regierenden Potentaten sind da nicht angebracht.

Das Putin-Regime sowie die benachbarten Diktaturen, vor allem in Belarus, brauchen im Interesse des Machterhalts die Abschottung vom übrigen Europa, einen neuen „Eisernen Vorhang“ mit geschlossenen Grenzen zu den liberalen westlichen Demokratien. Dieses von den Außenministern Lawrow und Makej indirekt als Vorwurf gegen „den Westen“ geäußerte Motiv erscheint jedenfalls plausibler als die in den Vordergrund gestellten „Sicherheitsinteressen“.[26]

 

Der Angriff auf die Ukraine hat im Westen und insbesondere in Deutschland eine bislang nicht vorstellbare Rüstungsspirale ausgelöst. Es ist nun enorm erschwert, politisch für Abrüstung und die dringende Verwendung der für Rüstung bereit gestellten Mittel für zivile Zwecke zu wirken. Gewerkschaftliche und sozial engagierte Kräfte müssen mit ansehen wie der Rüstungsetat das verschlingt, was für Bildung, Klima, Gesundheit und andere soziale Zwecke dringend benötigt würde. Auch das haben wir letztlich dem Kriegsherrn im Kreml und seinen Propagandisten zu verdanken.

 

Plan B im Krieg gegen die Ukraine

 

Ein Unterliegen der Ukraine gegenüber der militärischen Übermacht des Aggressors muss in Betracht gezogen werden – es muss einen Plan B, eine Alternative für eine militärische Entscheidung geben. Mit einer bedingungslosen Kapitulation, würde das „Recht“ des Stärkeren besiegelt. Gleichwie der Krieg weiter verläuft oder endet, bleibt das Recht der Ukraine auf Souveränität und territoriale Integrität bestehen.

Insofern ist es für die Ukraine von großer Bedeutung, dass von der internationalen Gemeinschaft, das Ziel der territorialen Integrität und Souveränität anerkannt und russische Ambitionen, sich eroberte Gebiete einzuverleiben, zurückgewiesen werden.[27]

Hier ist die Solidarität mit den Angegriffenen gefragt: Es bedarf eines immensen öffentlichen Drucks, um dieses Recht einzufordern, indem man das Putin-Regime vor der Weltöffentlichkeit in die Schranken weist.

Die derzeitige „Friedensbewegung“, die Putins Kriegsziele mehr rechtfertigt als in Frage stellt und von der Ukraine verlangt, sie solle sich der wirklichen oder vermeintlichen militärischen Übermacht und damit dem „Recht“ des Stärkeren fügen, steht hier leider auf der Bremse.

 

 

Anmerkungen

[1] https://nie-wieder-krieg.org/2023/07/29/aufruf-zum-dezentralen-aktionstag-der-friedensbewegung-am-3-oktober-2023/

[2] Siehe Standpunkte der Friedensbewegung unter https://friedensratschlag.de/sp/

[3] Mary Elise Sarotte. Nicht einen Schritt weiter nach Osten. Aus dem Englischen von Martin Richter. München 2023, S. 16. Ich folge hier der Einschätzung der Autorin.

[4] Der Kreml-Chef sei bereit gewesen, die Demilitarisierung der Ukraine sowie die Absetzung der amtierenden Regierung als Kriegsziele aufzugeben. https://www.daserste.de/information/talk/maischberger/faktencheck/faktencheck-maischberger-248.html

[5] https://www.tagesschau.de/faktenfinder/ukraine-russland-frieden-101.html

Am 4. Februar 2023 veröffentlichte der frühere israelische Ministerpräsident Naftali Bennett auf seinem eigenen YouTube-Kanal ein fast fünfstündiges Videointerview mit dem Journalisten Hanoch Daum.

https://www.youtube.com/watch?v=qK9tLDeWBzs Darin spricht er u.a. über sein Bemühen um Friedensverhandlungen in den ersten Wochen nach Kriegsbeginn im Februar 2022. https://www.daserste.de/information/talk/maischberger/faktencheck/faktencheck-maischberger-248.html

[6] Siehe oben.

[7] https://friedensratschlag.de/abschlusserklaerung/

[8] https://de.wikipedia.org/wiki/Zwei-plus-Vier-Vertrag, abgerufen am 11.8.2023.

[9] Sarotte, S. 205.

[10] Ebenda, S. 15, 205 f., 259 ff.

[11] Detlef Bimboes, Wolfgang Gehrcke, Angelika Haas, Karin Kulow, Norman Paech, Christiane Reymann, Werner Ruf, Arne Seifert, Jochen Scholz und Achim Wahl, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Nachricht, 17.7.2023. https://www.rosalux.de/news/id/50735 Hier werden die US-amerikanischen geopolitischem Ambitionen von Brzeziński bis zu heutigen Think-Tanks in epischer Breite dargestellt.

[12] „Die militärischen Strukturen des Bündnisses wurden am 31. März 1991, der Warschauer Pakt hierzu selbst am 1. Juli 1991 offiziell aufgelöst. Die in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn stationierten sowjetischen Truppen wurden abgezogen; in Deutschland blieb auf ehemaligem DDR-Gebiet dagegen bis Ende August 1994 die sowjetische (ab 22. Dezember 1991 russische) Westgruppe ... stationiert ...“ https://de.wikipedia.org/wiki/Warschauer_Pakt#cite_note-19, abgerufen am 11.8.2023.

[13] Das Budapester Memorandum umfasst drei Vereinbarungen, die am 5. Dezember 1994 in Budapest im Rahmen der dort stattfindenden KSZE-Konferenz unterzeichnet wurden. In den Vereinbarungen gaben die Russische Föderation, das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten gemeinsam mit Kasachstan, Weißrussland und der Ukraine Sicherheitsgarantien in Verbindung mit deren Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag und als Gegenleistung für die Beseitigung aller Nuklearwaffen auf ihrem Territorium. In den Vereinbarungen werden insbesondere bereits zuvor bestehende Verpflichtungen nochmals klargestellt und bekräftigt. https://de.wikipedia.org/wiki/Budapester_Memorandum, abgerufen am 10.8.2023.

Detaillierte quellenbasierte Ausführungen zum Budapester Memorandum bei Sarotte, S. 242 ff.

[14] Auch dieser Aspekt erschwert die ukrainische Verhandlungsposition. Die Frage der Sicherheitsgarantien für die Ukraine spielte auch in den Gesprächen im März 2022 eine Rolle.

[15] Grundakte über Gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der Nordatlantikvertrags-Organisation und der Russischen Föderation. 27 May. 1997 - 01 January 0001 / Last updated 12-Oct-2009 17-57

https://www.NATO.int/cps/en/NATOhq/official_texts_25468.htm?selectedLocale=de

Ausführlich zur Entstehung der NATO-Russland-Grundakte, Sarotte, S. 264 ff.

[16] Unter „substanziellen Kampftruppen“ werden alle Kampftruppen oberhalb einer Brigade, das heißt, ab der Größe einer Division verstanden. 4000 liegen knapp darunter. Die Bestimmungen der NATO-Russland-Grundakte werden von der Bundesregierung nicht in Frage gestellt.

[17] Dieser war Teil der NATO-Russland-Grundakte.

[18] Sarotte, S. 329, Anm. 10, S. 369.

[19] Prof. Dr. Peter Brandt, Historiker; Reiner Braun, Internationales Friedensbüro; Reiner Hoffmann, ehem. DGB-Vorsitzender; Michael Müller, Bundesvorsitzender der Naturfreunde, Parl. Staatssekretär a. D., https://friedenschaffen.net/aufruf-frieden-schaffen/

[20] https://www.fr.de/politik/peter-brandtkeine-weltordnung-ohne-russland-92341887.html

[21] Brigitte Forßbohm. Ein Manifest für den Frieden? In: Links bewegt https://www.links-bewegt.de/de/article/702.ein-manifest-f%C3%BCr-den-frieden.html

[22] 17.7.23, S. 11.

[23] Putin hat der Welt seine Vergewaltigungsfantasien mitgeteilt: „Ob's dir gefällt oder nicht, du wirst dich fügen müssen, meine Schöne”, sagte er in Anlehnung an russische Folklore im Gespräch mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/putin-zitiert-obszoene-folklore-und-droht-der-ukraine-17795210.html

[24] „Die Welt ist wesentlich brutaler, als wir es lange Zeit wahrhaben wollten“, Hans Hasenclever im Interview mit Bascha Mika, Frankfurter Rundschau, 5./6. August 2023, S. 20, 21.

[25] Igor Torbakow. Putins Russland oder: Die geistige Entkoppelung von Europa. Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2022. S. 61 ff.

[26] Lawrow droht mit neuem »Eisernen Vorhang«, Der Spiegel, 22.6.2022, https://www.spiegel.de/ausland/russland-sergej-lawrow-warnt-vor-neuem-eiserner-vorhang-a-42194474-1fe5-426c-baa2-62146d646aea?dicbo=v2-895793ec56ded3340b613ab0f33b6ec4

[27] Pitt von Bebenburg, Kommentar, FR, 8.8.2023, https://www.fr.de/meinung/kommentare/friedensgespraeche-ukraine-krieg-russland-signal-von-dschidda-92444786.html


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Sackgasse Friedensbewegung
Die Kritik an Positionen der derzeitigen Friedensbewegung richtet sich gegen das "Spiel mit der Historie", durch die Instrumentalisierung und Fehlinterpretation von Verträgen wie des "Zwei-plus-Vier-Vertrags" und der "Nato-Russland-Grundakte". Es wird den Motiven des Putin-Regimes für den Angriffskrieg gegen die Ukraine nachgegangen. Die Behauptung, es gehe um Sicherheitsinteressen der Russischen Föderation auf Grund der so genannten Nato-Osterweiterung, wird in Frage gestellt.
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