Russland 1917 – Parteien und akteure

Sendemanuskript

1917 – das Jahr der russischen Revolution

 

2017 blicken wir 100 Jahre zurück auf die Revolution in Russland, den Sturz der Zarenherrschaft im Februar und der Errichtung der „Diktatur des Proletariats“ unter Vorherrschaft der Bolschewiki im Oktober. Wladimir Iljitsch Lenin war der Ideengeber; in den Aprilthesen schrieb er, die „Arbeiterdeputiertenräte“ seien „die einzig mögliche Form der Revolutionsregierung“. Dies stieß im April nur bei wenigen der politischen Akteur*innen auf Verständnis. Im Juli ergriff die Parole „Alle Macht den Räten!“ die Massen, im „roten Oktober“ wurde sie in die Tat umgesetzt. Es scheint, als sei Karl Marx’ Satz, „... die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift“, im historischen Geschehen angekommen.

Die „Diktatur des Proletariats“, in Lenins Schrift „Staat und Revolution“ als Staatsform entwickelt, wurde Wirklichkeit. Mit der Auflösung der Konstituierenden Versammlung schafften die Bolschewiki das parlamentarische System in Russland bis auf weiteres ab.

Wir fragen nach den Gewinnern und Verlierern, nach den historischen Chancen und Geburtsfehlern des Sowjetsystems im „roten Oktober“.

 

Do, 04.05.2017

 

Parteien und Akteure: SDAPR, Sozialrevolutionäre, Kadetten, Dekabristen ...

 

Sie hören heute Teil 3 der Sendereihe 1917 – das Jahr der russischen Revolution. Heute geht es um die politischen Parteien, die die Agenda nach dem Sturz der Zarenherrschaft ab Anfang März 1917 bestimmten und um die Akteure, die damals ins Licht der Öffentlichkeit traten. Wir zeigen auf, wie entscheidend die Haltung der politischen Kräfte zur Frage von Krieg und Frieden bereits in den ersten Wochen nach der Abdankung des Zaren war. Zunächst aber blenden wir zurück ins 19. Jahrhundert. Denn die russische Revolution von 1917 hat eine jahrzehntelange Vorgeschichte.

Bis 1917 war Russland eine absolute Monarchie; ein Staat ohne Verfassung, ohne Parlament, seit 1613 unter der uneingeschränkten Herrschaft der Romanow-Dynastie.

Wenn Ludwig XIV., der „Sonnenkönig“ Frankreichs, im 17. Jahrhundert von sich sagte „L´etat c´est moi – Der Staat bin ich“ , so bezeichnete sich Zar Nikolaus II. noch 1910 als „Hausherr des russischen Landes“.

Und er herrschte streng, wie alle seine Vorfahren auf dem Thron. Grundlegende Freiheiten und Menschenrechte, wie wir sie heute als selbstverständlich empfinden, galten damals in Russland nicht.

Wer seine Meinung frei äußerte oder als Journalist oder Autor veröffentlichen wollte, riskierte verhaftet zu werden.

Die Würde des Menschen und sein Recht auf körperliche Unversehrtheit galten nicht für Untergebene, die Prügelstrafen ihrer Herrschaften zu dulden hatten.

 

Der Politikwissenschaftler Frank Deppe schrieb hierzu im März 2017:

„80 bis 85% der Einwohner des Reiches waren Bauern; die Mehrzahl von ihnen war erst 1861 aus der Leibeigenschaft entlassen worden. Ihre ökonomische Lage hatte sich jedoch verschlechtert.

Sie fristeten nach wie vor ein Leben in Armut, Unwissenheit und Unterdrückung durch die Aristokratie ebenso wie durch den staatlichen Polizei- und Militärapparat. Missernten und Hungersnöte Anfang der 1890er Jahre verschärften die Armut auf dem Lande. (...)

Bis 1917 blieb die industrielle Arbeiterklasse allerdings eine kleine Minderheit, obwohl sich die Bauern nach den Reformen von 1906 entscheiden konnten, als Industriearbeiter dauerhaft in die Städte zu ziehen. Im alten Industrierayon um Moskau waren 1900 nur 4 Prozent der Bevölkerung als Fabrikarbeiter beschäftigt.“

 

Dekabristen

 

Der Widerstand gegen die Herrschaft der Zaren zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des 19. Jahrhunderts in Russland. Im Dezember 1825 erhoben sich human und fortschrittlich gesinnte Adlige mit Waffengewalt gegen den Zaren.

Der Historiker Isaac Deutscher bezeichnete sie als "aristokratische, intellektuelle Elite". Sie kämpften für eine Verfassung zur Wahrung der Menschenrechte in Russland – wie auch die Demokraten des Vormärz in Deutschland, Österreich und anderen Länder Mittel- und Westeuropas zu dieser Zeit.

Da ihr Aufstand im Dezember stattfand, gingen sie als Dekabristen in die Geschichte ein. Sie mussten ihren Putsch mit dem Tod oder lebenslanger Verbannung nach Sibirien büßen.

Der Zar nahm den Aufstand zum Anlass, die Unterdrückung des russischen Volks weiter zu verschärfen.

Orlando Figes, Professor für Geschichte am Birkbeck College in London, schreibt in seinem Buch Die Tragödie eines Volkes – die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924, (Seite 140):

„Nikolai erließ umfassende Gesetze – einschließlich eines neuen Zensurgesetzes im Jahre 1826, das (in Europa damals erstmalig) bei jedem Druckerzeugnis dazu verpflichtete, vor der Veröffentlichung die Genehmigung vom Zensor einzuholen –, um jeden politischen Dissens zu ersticken. Die Dritte Abteilung oder Geheimpolizei, die in diesem Jahr eingerichtet wurde, hatte – und das war wiederum einmalig in Europa – die Befugnis, jeden, den man ,politischer Vergehen' verdächtigte, zu inhaftieren und sogar in administrative Verbannung nach Sibirien zu schicken.“

Aber die polizeistaatlichen Maßnahmen konnten das Streben der Russen nach einem Leben in Freiheit und Würde nicht vollständig unterdrücken.

 

Narodniki und Narodja Wolja

 

Der Historiker Isaac Deutscher, Professor an der Cambridge University, schrieb in den 1960-er Jahren in seinem Buch Die unvollendete Revolution 1917–1967 (Seite 20):

„Vor 1850 erschienen neue Radikale und Revolutionäre auf der Bühne. Sie entstammten den langsam wachsenden Mittelklassen; viele waren Kinder von Staatsbeamten und Geistlichen. Auch sie waren, wie die Dekabristen, Revolutionäre ohne revolutionäre Klasse. Die Bourgeoisie war noch immer bedeutungslos. Die Staatsbeamten und Popen waren entsetzt über ihre aufsässigen Söhne. Die Bauernschaft war apathisch und verhielt sich passiv. Nur ein Teil des Adels forderte Reformen. Als Alexander II. ihnen nachgab und unter anderem die Leibeigenschaft aufhob, sicherte er dadurch der Dynastie für Jahrzehnte die unerschütterliche Ergebenheit der Bauern (...) Aber die Agrarfrage blieb ungelöst. Die Leibeigenen waren befreit worden, doch blieben sie ohne Land; und sie gerieten in tiefe Verschuldung und in Dienstabhängigkeit, sie mussten ihre Pachten durch die Abgabe eines Teiles der Ernte bezahlen, um überhaupt Land bestellen zu können (...) Diese Lage und die Unterdrückung durch die Autokratie trieb immer neue Angehörige der Intelligentsia zum Aufstand, zu neuen Ideen und zum Experimentieren mit stets neuen Methoden des politischen Kampfes.“

 

Während die Narodniki in den 1870er Jahren aufs Land zogen, um wie Bauern zu leben und sie zum Kampf für ihre Interessen zu motivieren, verübten die Anhänger der Narodnaja Wolja zahlreiche Attentate; sie ermordeten 1881 Zar Alexander II. Auch Lenins älterer Bruder gehörte einer solchen konspirativen Zelle an und wurde nach dem missglückten Mordversuch an Zar Alexander III. 1887 hingerichtet.

 

Missernten hatten 1891 und 1892 eine Hungersnot in dem von 30-40 Millionen Menschen bewohnten Gebiet zwischen Ural und Schwarzem Meer verursacht. Hinzu kamen eine Typhus- und Choleraepidemie. Millionen Menschen starben in diesen Jahren in dieser Region.

 

Dazu Orlando Figes, Seite 174 und 176:

„Die Hungerkrise hatte die russische Gesellschaft aufgerüttelt und politisiert, ihr soziales Gewissen geweckt und das alte bürokratische System diskreditiert. Das allgemeine Misstrauen gegen die Regierung ließ mit dem Ende der Krise nicht nach, sondern verstärkte sich, da die Vertreter der bürgerlichen Gesellschaft auf mehr Mitsprache bei der Verwaltung nationaler Belange drängten. Der Hunger, hieß es, habe die sträflichen Versäumnisse und die Inkompetenz des alten Regimes bewiesen, und nun wuchs die Erwartung, dass breitere Kreise der Gesellschaft in die Regierungsarbeit einbezogen werden müssten, um in Zukunft solche Katastrophen zu vermeiden.

(...)

Dieses politische Erwachen der Öffentlichkeit war Teil des umfassenden sozialen Wandels, der tieferen Ursache der Revolution. Von den 1890-er Jahren an lässt sich das Aufkommen einer bürgerlichen Gesellschaft, einer Öffentlichkeit und eines Ethos datieren, die alle in Opposition zum zaristischen Staat standen. Die Zeit, in der ... die Autokratie (also der Zar und sein Herrschaftsapparat M.F.) die einzige organisierte Kraft in Russland war und eine schwache und gespaltene Gesellschaft beherrschen konnte, ging zu Ende. Nunmehr kehrte sich dieses Verhältnis um. Die gesellschaftlichen Institutionen wurden immer unabhängiger und besser organisiert, wohingegen der zaristische Staat ständig schwächer wurde und unfähiger, sie zu kontrollieren. Die Hungerkrise war der entscheidende Wendepunkt in diesem Prozess, der Augenblick, in dem sich die russische Gesellschaft zum ersten Mal ihrer selbst politisch bewusst wurde, ihrer Macht, ihren Pflichten gegenüber dem Volk und des Potentials, über das sie verfügte, um sich selbst zu regieren. Es war der Augenblick, in dem Russland in gewisser Weise zum ersten Mal eine Nation wurde.“

 

Sozialrevolutionäre

 

In diesem politischen Klima wurden um die Jahrhundertwende mehrere Parteien gegründet, die sich auf die revolutionären Traditionen Russlands im 19. Jahrhundert beriefen und für die Ablösung des Feudalsystems des Zarismus durch eine neue Gesellschaft kämpften. Im Februar 1917 traten sie aus dem Untergrund hervor.

Da ist zunächst die Partei der Sozialrevolutionäre zu nennen. Der Historiker Hans-Heinrich Nolte charakterisiert sie in seiner Geschichte Russlands wie folgt (Seite 164):

„Die Sozialrevolutionäre kämpften für eine ,Freie Volksherrschaft’, worunter sie die Anerkennung der Menschenrechte, Förderung von genossenschaftlich organisierten Betrieben und progressive Steuern verstanden. Ihr Agrarprogramm richtete sich gegen die ,bourgeoisen Privateigentumsprinzipien’ und stützte sich auf die ,Traditionen und Lebensformen der russischen Bauernschaft’, auf die Dorfgemeinde, den MIR. Mit solchen Forderungen gewannen die Sozialrevolutionäre die überwiegende Mehrheit der Bauern und damit überhaupt die Mehrheit des Volkes für sich.“

 

Weiterhin hatten sich 1905 zwei bürgerliche Parteien gebildet: die Konstitutionellen Demokraten, nach ihrer Abkürzung K. D. meist als Kadetten bezeichnet, und die Oktjabristen, die mit dem Zugeständnis des Zaren im Oktober 1905, ein Parlament, die Duma, zu schaffen, zufrieden waren.

 

Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands (SDAPR)

 

Von größter Bedeutung für die Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert im allgemeinen und für das Jahr 1917 im besonderen war die Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) im Jahr 1898.

In diesem politischen Klima wurden um die Jahrhundertwende mehrere Parteien gegründet, die sich auf die revolutionären Traditionen Russlands im 19. Jahrhundert beriefen und für die Ablösung des Feudalsystems des Zarismus durch eine neue Gesellschaft kämpften. Im Februar 1917 traten sie aus dem Untergrund hervor.

Während die Sozialrevolutionäre durchaus erfolgreich an der Tradition der Narodniki anknüpften und wie diese sich auf die Bauern orientierten, sahen die Sozialdemokraten als Marxisten in den Arbeitern die Klasse, die – wie bereits in Westeuropa geschehen – nach und nach zur dominierenden sozialen und politischen Kraft in der Gesellschaft werden würde. Aber galt das auch für Russland?

 

Dazu schreibt Michael Schneider in seinem 1992 erschienen Buch Das Ende eines Jahrhundertmythos – eine Bilanz des Staatssozialismus (Seite 104):

„Geblendet vom Schein der zaristischen Industrialisierung, die sich indes auf wenige Großstädte wie Petersburg, Moskau, Riga, Odessa beschränkte, unterstellte Lenin die Dominanz des Kapitalverhältnisses nicht nur in den wenigen Großstädten Russlands, sondern zunehmend auch auf dem Lande. Aus dem allmählichen Vordringen der Warenproduktion und der Lohnarbeit auf dem russischen Dorf schloss er verfrüht auf eine kapitalistische, d. h. um des Mehrwerts willen produzierende Klasse innerhalb der Bauernschaft. In Wirklichkeit gab es weder eine moderne und durchsetzungsfähige Bourgeoisie, die ihre ,historische Mission’ der Kapitalakkumulation hätte erfüllen können, noch eine gesellschaftlich dominierende Lohnarbeiterklasse, weder in der Stadt noch auf dem Lande.“

 

Bolschewiki und Menschewiki

 

In dieser und anderen grundsätzlichen Fragen traten in den ersten Jahren nach der Parteigründung unüberbrückbare Meinungsverschiedenheiten zu Tage, die 1903 zur Spaltung in eine Mehrheitsfraktion Bolschewiki und in eine Minderheitsfraktion Menschewiki führte. Hierzu Michael Schneider (Seite 106):

Lenin wollte eine Partei schaffen, die „Führerin in der kommenden Volksrevolution sein sollte. Dies war ein ungleich ehrgeizigeres Ziel als das, welches die Menschewiki verfolgten: nämlich im Rahmen einer demokratischen Republik, in der sie in der Opposition stehen würden, für die sozialen und wirtschaftlichen Interessen der Arbeiter einzustehen.“

 

Isaac Deutscher charakterisierte die beiden Fraktionen wie folgt (Seite 158): „Die Bolschewisten hatten eine dichtmaschige Organisation mit einer klar umrissenen eigenen Doktrin ... , die es dem Zentralkomitee erlaubte, seine Schritte in der Gewissheit zu planen, das seine Befehle ... von den Parteimitgliedern ausgeführt werden würden (...)

Der Menschewismus andererseits war bezüglich seiner Organisation mehr oder weniger ohne Gestalt und in seiner Theorie vage (...) Bei der Februar-Revolution war die Partei in Fraktionen zersplittert (159)."

Als herausragende menschewistische Politiker des Jahres 1917 sind Zeretelli und Tschcheidse, Plechanow, Martow und Trotzki zu nennen. Letzterer schloss sich im Juli 1917 den Bolschewisten an.

„Im Niemandsland zwischen Menschewismus und Bolschewismus stand Maxim Gorkis Zeitschrift Neues Leben, in der unabhängige Sozialisten ihre Ansichten darstellten“, so Isaac Deutscher.

Frank Deppe wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Rosa Luxemburg sich schon 1904 gegen Lenins Position stellte (Seite 284): „Sie verwarf seine ,ultrazentristische’ Auffassung von der Organisation, die das ,Zentralkomitee’ als den ,eigentlichen aktiven Kern, alle übrigen Organisationen lediglich als seine ausführenden Werkzeuge’ bestimme (Luxemburg, 1966, Bd. 3, S. 86), was der historisch-dialektischen Denkmethode des Marxismus widerspräche. Sie schließt ihre Kritik mit den Worten (Seite 285): „Fehltritte, die eine wirkliche revolutionäre Arbeiterbewegung begeht, sind geschichtlich unermesslich fruchtbarer und wertvoller als die Unfehlbarkeit des allerbesten Zentralkomitees.“ Deppe: „Erst nach dem Tode Lenins sollte sich Luxemburgs Kritik als berechtigt erweisen.“

 

Die folgenden Ausführungen stützen sich auf das ausführliche, auf breitem Quellenstudium beruhende Werk von Orlando Figes, Die Tragödie eines Volkes – Die Epoche der russischen Revolution von 1891 bis 1924, das 1998 erstmals in deutscher Sprache erschien. Der 1959 als Kind einer 1939 mit ihrer Familie von Berlin nach London emigrierten deutsch-jüdischen Mutter geborene Autor ist Professor für Geschichte am Birkbeck College in London. Der große marxistische Historiker Eric Hobsbawn (1917-2012) sagte, dass Figes Werk „mehr zum Verständnis der Russischen Revolution“ beitragen werde, als irgendein anderes Buch, das er kenne.

 

Politische Entwicklungen im Frühjahr 1917

 

In der letzten Sendung zeigten wir, wie Lenins Aprilthesen, mit denen er einen straffen Kurs auf eine sozialistische Revolution einleitete, nur bei wenigen auf Zustimmung stieß.

Lenin ging es in erster Linie darum, die Bolschewiki zu überzeugen. Sie sollten nach seiner Meinung aufhören, die Provisorische Regierung zu unterstützen und auf eine sozialistische Revolution hinarbeiten. Angesichts des fortschreitenden Krieges könne die Revolution nicht auf bürgerlich-demokratische Ziele beschränkt bleiben.

In den Räten hatten die Bolschewiki zu diesem Zeitpunkt noch keine Mehrheiten. Kamenew und Stalin waren Mitte März aus dem sibirischen Exil zurückgekehrt und übernahmen die Kontrolle über die Zeitschrift „Prawda“. Auch sie gingen zu diesem Zeitpunkt noch davon aus, dass die „bürgerliche Revolution“ noch einen langen Weg vor sich habe und unterstützten die Provisorische Regierung. Dem entsprachen auch die Beschlüsse der Allrussischen Konferenz der Bolschewiki Ende März 1917. Man suchte Annäherung an die Menschwiki. Vor allem die Provinzbolschewiki waren nicht bereit, die Bindungen an andere Gruppen des linken Flügels aufzugeben. Nur das Komitee des Petrograder Arbeiterstadtteils Wyborg sprach sich ohne Wenn und Aber für die alleinige Rätemacht aus.

Auch Trotzki, der erst im Mai 1917 von New York nach Petrograd kam, stützte die These, dass ganz Europa am Rande einer sozialistischen Revolution stehe. Seine Theorie der „permanenten Revolution“ hat möglicherweise Einfluss auf Lenins Aprilthesen genommen.

Die Versammlung im Taurischen Palais, in der Lenin seine Thesen vortrug, diente eigentlich der Annäherung der bolschewistischen und menschewistischen Fraktionen der Sozialdemokratischen Partei. Lenin suchte stattdessen die Konfrontation. Obwohl er einen Sprachfehler hatte – er konnte das „r“ nicht sprechen – gelang es ihm, die Zuhörer in seinen Bann zu ziehen. Seine Reden waren von einer eisernen Logik, er prägte griffige Losungen, die er den Köpfen durch endlose Wiederholungen einhämmerte. Schließlich überzeugte er und setzte sich mit seinen Ideen durch.

Nach Orlando Figes ist die Vorstellung, dass die Bolschewiki eine monolithische, von Lenin straff kontrollierte Organisation gewesen seien, jedoch ein Mythos. Eine ganze Reihe ideologischer Konflikte spaltete sie von April bis Oktober von der Spitze bis zur Basis. Lenin fand sich oft bei einer kleinen Minderheit wieder. „Wenn er am Ende immer seinen Willen durchsetzte, so lag das nicht einfach daran, dass er die Partei beherrschte, sondern auch an seinen vielen politischen Talenten, die Überzeugungskraft, taktische Rückzieher und Kompromisse, Rücktrittdrohungen und Ultimaten, Demagogie und Appelle an die Basis mit einschlossen.“ (Seite 418)

 

Weitere Differenzierungen unter den russischen Sozialdemokraten im Frühjahr 1917

 

Figes sieht drei Faktoren, die beim Kampf um die Anerkennung der Aprilthesen für Lenin arbeiteten, auf Seiten der Rechten, im Zentrum und auf Seiten der Linken der Bolschewistischen Partei.

  1. So trieb Lenins Konzept eine Reihe bolschewistischer Veteranen ins menschewistische Lager,
  2.  Das Zentrum zog Lenin nach und nach auf seine Seite, indem er die radikalen Aspekte der Aprilthesen abmilderte. So gewann er eine Mehrheit bei der Allrussischen Parteikonferenz vom 24. Bis zum 29. April gegen Kamenew, indem er akzeptierte, dass es ,eine längere Periode der Agitation’ geben müsse, ehe die Massen bereit sein würden, den Bolschewiki zur nächsten Etappe der Revolution zu folgen. Lenin ließ damit die Forderung nach dem sofortigen Sturz der Provisorischen Regierung fallen, in der viele Bolschewiki die logische Konsequenz der Aprilthesen gesehen hatten.
  3. Der linke Parteiflügel schließlich wurde gestärkt durch den massenhaften Eintritt von Arbeitern und Soldaten, die die Mehrheit der Parteikonferenz im April stellten – es waren 149 Delegierte, die 80000 Mitglieder repräsentierten.

„Sie vertraten in der Regel radikalere Ansichten als ihre Parteiführer, wussten wenig von der marxistischen Theorie und konnten daher nicht verstehen, weshalb eine ,bürgerliche Revolution’ notwendig sein sollte. Warum wollten ihre Führer den Sozialismus in zwei Etappen erreichen, wenn sie ihn in einer bekommen konnten? (...) Weshalb sollten sie zulassen, dass die Bourgeoisie ihre Kräfte sammelte, wenn das die Aufgabe, sie später zu beseitigen, nur noch schwieriger machte?“ Da leuchteten ihnen die Aprilthesen mit ihrer Forderung nach sofortiger Rätemacht eher ein.

 

Konflikt um die Stellung zum Krieg – Aprilkrise

 

Vor allem aber waren es die politischen Umstände im April 1917, die Lenins Ansichten bestätigten. Es ging um die Frage der Fortsetzung des Krieges und im weiteren Sinne um die Kriegsziele Russlands.

 

Orlando Figes (Seite 405):

„Man könnte „das ganze Jahr 1917 als einen politischen Kampf zwischen denjenigen betrachten, die die Revolution als ein Mittel zur Beendigung des Krieges, und denjenigen, die den Krieg als ein Mittel zur Beendigung der Revolution ansahen.“

 

Der Petrograder Arbeiter- und Soldatenrat, wirkte in dieser entscheidenden Frage als Gegenspieler der Provisorischen Regierung. Er hatte am 14. März mit dem „Appell an die Völker der Welt“ eine Friedenskampagne begonnen, mit der er die zaristischen Kriegsziele wiederrief und die Völker der kriegführenden Nationen aufrief, gegen den „imperialistischen Krieg“ zu protestieren. Dieser Appell traf auf breite , auch internationale Zustimmung. Auch in Deutschland gab es im April 1917 starke Zustimmung zu den Friedensbemühungen des Arbeiter- und Soldatenrats der russischen Hauptstadt, die sich in Streiks von Zehntausenden von Arbeitern in Berlin und anderen Großstädten ausdrückte und Kaiser Wilhelm II. veranlasste, zu Ostern 1917 eine Friedenbotschaft zu erlassen. (Abendroth). Die meisten Soldaten der russischen Armee erklärten ihre Loyalität gegenüber dem Rat und billigten den Appell für den Frieden auf zahlreichen Militärkongressen. Auch die Provisorische Regierung unterstützte diese Linie, nachdem seitens des Rats Ende März der vom linken Flügel befürwortete Plan für einen Separatfrieden mit Deutschland aufgegeben worden war. Ab dem 21. März war er auf die nationale Einheit zur Verteidigung Russlands in Verbindung mit einer internationalen Friedenskampagne für eine demokratische Regelung „ohne Annexionen oder Reparationen“ eingeschwenkt. In diesem Sinne gab die Provisorische Regierung am 27. März eine Erklärung ab, die mit der des Arbeiter- und Soldatenrats übereinstimmte.

Darin hieß es:

„Die Verteidigung des Besitzes unseres eigenen Vaterlandes um jeden Preis und die Befreiung des Landes von einem Feind, der in unser Gebiet eingedrungen ist, – das ist die erste, wichtigste Lebensaufgabe unserer Krieger, die die Freiheit des Volkes verteidigen.

Die Provisorische Regierung überläßt es dem Volkswillen, alle Fragen, die mit dem Weltkrieg und seiner Beendigung verbunden sind, in engster Eintracht mit unseren Alliierten endgültig zu lösen, und hält es für ihr Recht und ihre Pflicht, sofort zu erklären, daß das Ziel des freien Rußlands nicht die Herrschaft über andere Völker, nicht die gewaltsame Aneignung ihres Nationaleigentums, nicht die gewaltsame Eroberung fremder Gebiete, sondern die Behauptung eines sicheren Friedens auf Grundlage des Selbstbestimmungsrechtes der Völker ist.“ Aus: Schlüsseldokumente zur russischen und sowjetischen Geschichte

Der Außenminister und Angehörige der bürgerlichen Kadettenpartei Miljukow ging jedoch seinen eigenen Weg und erklärte gegenüber dem Manchester Guardian, dass sich damit an Russlands Bündnisverpflichtungen nichts ändere. Dies löste einen heftigen Streit innerhalb und außerhalb der Provisorischen Regierung aus. Der Arbeiter- und Soldatenrat drängte nun darauf, die Erklärung als diplomatische Note auch ohne die Zustimmung des Außenministers an die Alliierten zu übergeben. Als Miljukow dies am 18. April endlich tat, fügte er jedoch eine Begleitnote hinzu. In der es hieß:

„Die Regierung des alten Regimes war selbstverständlich nicht in der Lage, diese Gedanken vom Befreiungscharakter des Krieges, von der Schaffung sicherer Grundlagen für das friedliche Zusammenleben der Völker, vom Selbstbestimmungsrecht der unterdrückten Nationen usw. zu verstehen und zu teilen. Aber das befreite Rußland kann jetzt die Sprache, die den fortschrittlichen Demokratien der Menschheit unserer Zeit verständlich ist, sprechen, und beeilt sich, sich mit ihrer Stimme den Stimmen der Alliierten anzuschließen. Die Erklärungen der Provisorischen Regierung, die von diesem neuen Geist der befreiten Demokratie erfüllt sind, können selbstverständlich nicht den geringsten Anlaß für den Gedanken geben, daß der erfolgte Umsturz zur Schwächung der Rolle Rußlands im gemeinsamen Kampf der Alliierten führte. Ganz im Gegenteil hat sich das Streben des ganzen Volkes, den Weltkrieg bis zum entscheidenden Sieg zu führen, dank dem Bewußtsein der gemeinsamen Verantwortung aller und jedes einzelnen nur verstärkt. (...) Es ist selbstverständlich, daß die Provisorische Regierung, indem sie die Rechte unseres Vaterlandes schützt, die Verpflichtungen, die unseren Alliierten gegenüber übernommen wurden, vollauf wahren wird, wie auch in dem beigelegten Dokument ausgeführt wird. Sie fährt fort, die vollständige Überzeugung der siegreichen Beendigung des jetzigen Krieges im vollen Einvernehmen mit den Alliierten zu hegen ...“ Ebenda.

 

Unmissverständlich bestätigte Miljukow mit dieser Begleitnote die – imperialistischen – Kriegsziele der Alliierten, stellte sich an die Seite der vermeintlich „fortschrittlichen Demokratien“.

Parallel zu diesen Vorgängen hatte der amerikanische Kongress Mitte April den Eintritt in den Ersten Weltkrieg beschlossen.

Das eigenmächtige Vorgehen Miljukows wurde – zu Recht – als ein Einschwenken auf die imperialistischen Kriegsziele der Bourgeoisie verstanden und löste größte Empörung aus. Am 20. April demonstrierten Tausende von bewaffneten Arbeitern und Soldaten auf den Straßen Petrograds und verlangten die Beendigung des Krieges und die Entlassung der Minister. Fjodor Linde, ein Feldwebel des Finnländischen Regiments, der schon frühere Meutereien angeführt hatte, marschierte mit seinem Bataillon zum Marienpalais um den Arbeiter- und Soldartenrat bei der vermeintlich bevorstehenden Verhaftung der Provisorischen Regierung militärisch zu unterstützen. Auf dem Weg dorthin schlossen sich auch wütende Soldaten weiterer Regimenter an, sodass Lindes Straßenarmee auf 25000 Mann angewachsen war.

 

Die „Aprilkrise“ führte jedoch nicht zur Verhaftung, sondern zu einer Kabinettsumbildung der Provisorischen Regierung. Der Kriegsminister Gutschkow, der einzige Unterstützer Miljukows im Kabinett, trat zurück. Am 4. Mai verließ auch Miljukow die Regierung. Im Gegenzug besetzten 6 von 16 Kabinettsposten nun Sozialisten, die auch dem Arbeiter- und Soldatenrat angehörten. Der Sozialrevolutionär Kerenski, der als einziger der Linken sowohl dem Arbeiter- und Soldatenrat als auch dem Kabinett als Justizminister angehört hatte, übernahm nun das Kriegsministerium.

 

Orlando Figes kommt zu dem Schluss (Seite 409):

„Statt ihr ,Volks’-mandat zur Übernahme der Macht zu nutzen, wie sie es während der Aprilkrise hätten tun können, zogen die Räteführer es vor, eine liberale Regierung zu unterstützen, die bereits diskreditiert war. Sie galten zunehmend als Hüter eines ,bourgeoisen’ Staats und die Initiative zur Revolution, für Brot, Land und Frieden, wurde nun von den Bolschewiki ergriffen.“

 

Quellen und Literatur

 

Abendroth, Wolfgang u. a.: Oktoberrevolution, Frankfurt am Main 1977
Deppe, Frank: Politisches Denken im 20. Jahrhundert, Band 1, Kapitel 6, Imperialismus und
Revolution - W.I. Lenin, Hamburg 1999
Deppe, Frank: Der Oktober 1917 und das Zeitalter der globalen Gegenrevolution Z. ZEITSCHRIFT
MARXISTISCHE ERNEUERUNG Nr. 109, Frankfurt am Main März 2017
Deutscher, Isaac: Die unvollendete Revolution, Frankfurt am Main 1967

Orlando Figes,  Die Tragödie eines Volkes – die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924, München 2001

Nolte, Hans-Heinrich: Geschichte Russlands, Stuttgart 2012

Schlüsseldokumente zur russischen und sowjetischen Geschichte, Link
Schneider, Michael: Das Ende eines Jahrhundertmythos, Köln 1992

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