Russland 1917

Revolution in Russland 1905

Sendemanuskript

Hans-Heinrich Nolte schreibt in seiner  "Geschichte Russlands":

 

"Vor dem Ersten Weltkrieg hatte Russland seine größte Ausdehnung erreicht und erstreckte sich zwischen Warschau, das damals russisch war, und Wladiwostok am Stillen Ozean, wurde im Norden vom Polarmeer und im Süden von Persien und China begrenzt. Es war eine absolute Monarchie; seit 1613 herrschte hier die Dynastie der Romanows, in ihrem Selbstverständnis 'von Gottes Gnaden'. In seinen geistigen und sozialen Strukturen war Russland europäisch geprägt und ökonomisch auf Westeuropa bezogen.

Die ca. 178 Mio. Einwohner Russlands waren überwiegend Bauern; das Land war jedoch von einzelnen industriellen Inseln in St. Peterburg und Moskau, im Nordwesten Russlands, am Don und bei Baku durchsetzt. In den Städten gab es eine kleine bürgerliche Schicht; etwa jeder zehnte verdiente seinen Unterhalt als Lohnarbeiter, etwa jeder 60., also etwa 3 Mio. Menschen, als Industriearbeiter.

Dieser recht kleine Teil der Bevölkerung führte ein hartes Leben unter hygienisch untragbaren Wohnbedingungen und musste an 6 Tagen der Woche jeweils bis zu 14 Stunden arbeiten. Dennoch waren die Industriearbeiter eine schlagkräftige Gruppe, nicht nur weil die Größe der Betriebe die Organisation erleichterte, sondern auch, weil die Hälfte unverheiratet war und selbst von den Verheirateten viele getrennt von ihren Familien lebten, die auf dem Lande geblieben waren."

 

Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch von John Reed "10 Tage, die die Welt veränderten" . Es wird in der Sendereihe noch eine große Rolle spielen.

 

Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler William Walling schrieb 1908 über die russischen Arbeiter:

 

"Der russische Arbeiter ist revolutionär, aber er ist weder gewalttätig noch dogmatisch noch unintelligent. Die meisten können lesen und schreiben. Sie sind sich darüber einig, dass unsere amerikanischen Institutionen besser sind als ihre eigenen, aber sie haben keine Lust, die Despotie des Zaren gegen die Despotie der Kapitalistenklasse zu tauschen. ... Seit langen herrscht in Russland eine große Unzufriedenheit. Die Arbeiter können auf einen großen Teil der gebildeten Schichten rechnen, die nicht minder revolutionär gesinnt sind als sie."

Und der Direktor des russischen Informationsbüros in den USA, Sack, schrieb:

"Ausländer, ganz besonders die Amerikaner, sprechen gern von der Unwissenheit der russischen Arbeiter. Es ist wahr, sie hatten nicht die politischen Erfahrungen der Völker des Westens, aber sie waren Meister im freiwilligen Zusammenschluss. ... Außerdem gibt es in der ganzen Welt kein anderes Volk, das so gut in der sozialistischen Theorie und in ihrer praktischen Anwendung geschult ist."

 

Nicht nur die Gewerkschaften waren verboten, sondern auch Vereine und Parteien. Die um die Jahrhundertwende gegründeten Organisationen wie die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands, der Allgemeine jüdische Arbeiterbund in Polen, Litauen und Russland, die Sozialrevolutionäre Partei und der liberale Befreiungsbund waren in den Untergrund gedrängt und wurden von der Polizei des Zaren verfolgt.

 

In seinem 1906 erschienenen Roman "Die Mutter" schilderte der russische Autor Maxim Gorki das Leben der russischen Arbeiterinnen und Arbeiter:

 

"Tagtäglich zitterte und brüllten in der räucherigen öligen Luft über der Arbeitervorstadt die Töne der Fabrikdampfpfeife, und ihrem Ruf gehorchend, kamen aus den kleinen grauen Häusern finstere Menschen, die ihre Muskeln durch Schlaf nicht hatten erfrischen können, gleich erschreckten Schaben auf die Straße gelaufen. In der kalten Dämmerung schritten sie auf den ungepflasterten Straßen zu den hohen Steinkäfigen der Fabrik, die sie mit gleichgültiger Zuversicht erwartete und den schmutzigen Weg durch Dutzende fetter, gelber, quadratischer Augen erleuchtete. Der Schmutz schwappte unter den Füßen. Schrille Rufe verschlafener Stimmen ertönten; grobe bösartige Schimpfreden durchschnitten die Luft, während andere Töne: schwerer Maschinenlärm und Zischen des Dampfes, den Menschen entgegen tönten. Finster und streng schimmerten die Schornsteine, die wie dicke Pfähle über der Vorstadt in die Höhe ragten.

Abends, wenn die Sonne unterging und ihre roten Strahlen müde auf den Fensterscheiben der Häuser glänzten, stieß die Fabrik die Menschen gleich übrig gebliebenen Schlacken aus ihrem Steinschoße aus, und sie schritten wieder die Straßen entlang, rauchgeschwärzt, mit schwarzen Gesichtern, in der Luft den klebrigen Geruch des Maschinenöls verbreitend, mit blinkenden hungrigen Zähnen. Jetzt klangen ihre Stimmen lebhaft und sogar freudig; für heute war die Fronarbeit beendet, zu Hause harrten ihrer das Abendessen und die Ruhe.

Wieder war ein Tag von der Fabrik aufgezehrt, die die Maschinen hatten aus den Muskeln der Menschen so viel Kraft gesogen wie sie brauchten. Der Tag war spurlos aus dem Leben ausgelöscht, der Mensch war dem Grabe wieder einen Schritt näher gekommener sah jetzt den Genuss des Ausruhens, die Freuden der räucherigen Schänke dicht vor sich und war zufrieden.

 

An Feiertagen schlief man bis gegen 10 Uhr, dann zogen die Soliden und Verheirateten ihre besten Kleider an und gingen zur Messe; unterwegs schimpften sie auf die jungen Leute wegen ihrer Gleichgültigkeit gegen die Kirche. Aus der Kirche kehrten sie nach Hause zurück, aßen Pasteten und legten sich wieder schlafen – bis zum Abend.

 

Die durch Jahre aufgehäufte Müdigkeit hatte den Menschen den Appetit geraubt, und um essen zu können tranken sie viel und reizten den Magen mit scharf beizendem Branntwein.

 

Abends schlenderten sie faul durch die Straßen, und wer Galoschen hatte, zog sie auch an, wenn es trocken war, wer einen Regenschirm besaß, nahm ihn mit, selbst wenn die Sonne schien.

 

Wenn sie einander begegneten, sprachen sie über die Fabrik, über die Menschen, schimpften auf die Meister – sprachen und dachten nur das, was ihnen nahe lag und Bezug auf ihre Arbeit hatte. Nur vereinzelte Funken ungeschickter kraftloser Gedanken leuchteten in der langweiligen Öde der Tage auf. Nach Hause zurückgekehrt, fingen sie Streit mit den Frauen an und schlugen sie oft unbarmherzig.

 

Die Jugend saß in den Wirtschaften oder veranstaltete abendliche Zusammenkünfte beieinander, spielte Harmonika, sang hässliche, unanständige Lieder, tanzte, führte garstige Reden und trank. Von der Arbeit erschöpft, wurden die Menschen schnell berauscht, und in ihrer Brust erwachte eine ganz unklare, krankhafte Erregtheit, die einen Ausweg forderte. Sie griffen krampfhaft nach jeder Möglichkeit, dieses Gefühl der Unruhe zu entladen, und fielen wegen unbedeutender Kleinigkeiten mit der Bösartigkeit wilder Tiere übereinander her. Da entstanden dann blutige Schlägereien. Oft endeten diese mit schweren Verletzungen, manchmal führten sie aber auch zu einem Totschlag.

 

Im Verhalten der Leute gegeneinander kam am meisten gerade diese lauernde Bosheit zum Vorschein, die ebenso unausrottbar in ihnen saß wie die unheilbare Muskelmüdigkeit. Sie kamen mit diesem seelischen Leiden auf die Welt, es war ihnen von ihren Vätern vererbt, begleitete sie wie ein Schatten bis zum Grabe und veranlasste sie im Leben zu abscheulichen Handlungen zweckloser Grausamkeit.

 

An Feiertagen kamen die jungen Leute spät nachts in zerrissener Kleidung, schmutzig und staubig, mit zerschlagenen Gesichtern nach Hause und prahlten schadenfroh mit Schlägen, die die Freunde bekommen, oder aber gekränkt und wütend, weinend über erlittene Unbill, kläglich in ihrem Rausche, unglücklich in ihrem Rausche, unglücklich und abstoßend. Bisweilen geleiteten die Mütter und Väter die Burschen nach Hause. Sie hatten sie irgendwo an einem Zaun liegend auf der Straße oder sinnlos betrunken in der Kneipe angetroffen, schimpften unflätig, schlugen mit Fäusten auf die weichen, vom Branntwein entkräfteten Kinderleiber ein, legten sie dann mehr oder weniger behutsam schlafen, um sie frühmorgens, wenn das bösartige Brüllen der Fabrikpfeife wie ein dunkler Strom durch die Luft eilte, zur Arbeit zu wecken.

 

Sie beschimpften die Kinder und prügelten sie roh; die Trunkenheit und die Schlägereien der Jugend schienen den Alten ganz in Ordnung. Als die Väter jung gewesen waren, hatten sie auch getrunken und sich geschlagen, und ihre Mütter und Väter hatten sie ebenfalls geprügelt. Das Leben war so – es floss wie ein trüber Strom gleichmäßig und langsam Jahr für Jahr dahin und wurde durch feste, uralte Gewohnheiten, Tag für Tag ein und dasselbe zu denken und zu tun, zusammengehalten. Und niemand hatte Zeit oder Lust, eine Änderung zu versuchen.

 

Manchmal kamen von anderswo fremde leute in die Vorstadt. Zuerst lenkten sie die Aufmerksamkeit einfach dadurch auf sich, dass sie Fremde waren, dann erregten sie durch Erzählungen von den Stellen, an denen sie gearbeitet, ein leichtes äußeres Interesse für sich, schließlich aber ging der Reiz der Neuheit an ihnen verloren, man gewöhnte sich an sie, und sie wurden nicht weiter beachtet. Aus ihren Erzählungen ging hervor, dass das Leben des Arbeiters überall dasselbe war – worüber sollte man da reden?

 

Hin und wieder erzählten solche Leute doch in der Vorstadt noch nicht gehörte Dinge. Man stritt mit ihnen nicht, sondern hörte ihnen ungläubig zu. Ihre Reden erweckten bei den einen blinden Zorn, bei den anderen dumpfe Unruhe, die dritten endlich beunruhigte ein leiser Schimmer von Hoffnung auf etwas Unklares, und man trank noch mehr, um die überflüssige, lästige Unruhe zu unterdrücken.

 

Wenn die Vorstädter an einem Fremden etwas Ungewohntes wahrgenommen hatten, konnten sie ihm das lange nicht vergessen, und ihr Verhalten gegen einen solchen Menschen, der nicht ebenso war wie sie selber, war von einer unbestimmten Furcht bestimmt. Sie hatten gleichsam Angst, dieser Mensch werde in ihr Leben etwas hineintragen, was dessen trostlos einförmigen, zwar schweren, doch ruhigen Lauf stören könnte. Die Menschen waren daran gewöhnt, dass das Leben sie mit stets gleicher Kraft niederdrückte, sie erwarteten keine Änderung zum Besseren und glaubten, alle Veränderungen könnten nur den auf ihnen lastenden Druck vermehren.

 

So blieben die Vorstädter gegen Leute, die ungewöhnliche Dinge sprachen, zurückhaltend. Dann verschwanden diese Leute wieder, oder wenn sie in der Fabrik blieben, lebten sie für sich, wenn es ihnen nicht gelang, mit der einförmigen Masse der Vorstädter zu einem Ganzen zu verschmelzen …

 

Hatte man dieses Leben fünfzig Jahre lang gelebt, so war man am Sterben." (S. 7 ff.)

 

 Dem Zaren genügte das riesige russische Reich nicht; er erhob Ansprüche auf die Mandschurei und Korea. Der dadurch entstandene Konflikt mit Japan weitete sich 1904 zu einem Krieg aus, den Japan zu Wasser und zu Lande zu seinen Gunsten entschied. Die Kriegslasten sollte das Volk tragen und mit Hunger und Kälte bezahlen. Am 3. Januar 1905 streikten die Arbeiter der Putilow-Werke in St. Peterburg. Am Sonntag, dem 9. Januar versammelten sich ca. 100.000 Arbeiterinnen und Arbeiter zu einem Zug, an deren Spitze der Priester Georgi Gapon schritt. Die Demonstranten führten Bilder des Zaren und Ikonen mit sich, so dass der Zug eher einer Prozession glich. Sie wollten dem Zaren eine Petition überreichen, in der sie unter anderem den 8-Stunden-Tag, die Wahl von Betriebsräten und die Ausarbeitung einer Verfassung forderten. Als sich der Zug dem Winterpalais, dem Sitz des Zaren, näherte, eröffneten die Wachmannschaften das Feuer auf die wehrlosen Menschen; 100 starben, Tausende wurden verletzt. Der Peterburger "Blutsonntag" geriet zu einem Fanal der Revolution, die während des ganzen Jahres das Reich erschüttern sollte. In allen Städten kam es zu Streiks, Demonstrationen und zur Weiterentwicklung der Organisation der Arbeiterschaft. Im September 1905 trat der erste gesamtrussische Gewerkschaftskongress im Geheimen zusammen. In St. Petersburg und Moskau bildeten sich Arbeiterdeputiertenräte - Vorläufer der späteren Sowjets. Im Oktober lähmte ein Eisenbahnerstreik das Land.

 

Am 17. Oktober 1905 sagte der Zar in einem Manifest bürgerliche Freiheiten, ein gesetzgebendes Parlament und eine Verfassung zu. Danach ebbte die revolutionäre Dynamik ab. Als der Reichstag, genannt Duma, 1906 ein Gesetz über die Enteignung des Gutslands verabschiedete, löste der Zar sie einfach auf. Auch die zweite Duma, in der der Anteil der Sozialisten zugenommen hatte, wurde 1907 nach vier Monaten vom Zaren aufgelöst. 10 Jahre später musste der Zar abdanken.

 

Wie bereits angekündigt, hören Sie jetzt die im Jahr 1949 entstandene Kantate "Die Mutter" von Hanns Eisler nach dem Stück von Bertolt Brecht, das wiederum auf dem Roman "Die Mutter" von Maxim Gorki.

 

Liebe Hörerinnen und Hörer, die Sendung des Rosa-Luxemburg-Clubs auf Radio Rheinwelle geht zu Ende. Am Mikrofon waren Michael Forßbohm und Eckhart Dittrich. Wir danken Ihnen fürs Zuhören! Wir melden uns wieder in 4 Wochen um 18 Uhr auf dieser Welle.

 

Literatur:

 

Hans-Heinrich Nolte: Geschichte Russlands, 3. Auflage 2012.

 

© Brigitte Forßbohm, Michael Forßbohm, Herderstr. 31, 65185 Wiesbaden, Tel (06 11) 30 94 33, info@brigitteforssbohm.de