Lenins Rückkehr aus dem Exil – Aprilthesen

Sendemanuskript

1917 – das Jahr der russischen Revolution

 

2017 blicken wir 100 Jahre zurück auf die Revolution in Russland, den Sturz der Zarenherrschaft im Februar und der Errichtung der „Diktatur des Proletariats“ unter Vorherrschaft der Bolschewiki im Oktober. Wladimir Iljitsch Lenin war der Ideengeber; in den Aprilthesen schrieb er, die „Arbeiterdeputiertenräte“ seien „die einzig mögliche Form der Revolutionsregierung“. Dies stieß im April nur bei wenigen der politischen Akteur*innen auf Verständnis. Im Juli ergriff die Parole „Alle Macht den Räten!“ die Massen, im „roten Oktober“ wurde sie in die Tat umgesetzt. Es scheint, als sei Karl Marx’ Satz, „... die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift“, im historischen Geschehen angekommen.

Lenin hält im April 1917 eine Rede vom Panzerspähwagen aus, Holzschnitt aus dem Jahr 1934

Die „Diktatur des Proletariats“, in Lenins Schrift „Staat und Revolution“ als Staatsform entwickelt, wurde Wirklichkeit. Mit der Auflösung der Konstituierenden Versammlung schafften die Bolschewiki das parlamentarische System in Russland bis auf weiteres ab.

Wir fragen nach den Gewinnern und Verlierern, nach den historischen Chancen und Geburtsfehlern des Sowjetsystems im „roten Oktober“.

 

Do, 06.04.2017

Heute geht es um Lenins Rückkehr aus dem Exil und seine Aprilthesen als wichtiger Impuls für die weitere Entwicklung der Revolution in Russland

 

Nach der Abdankung des Zaren Nikolaus II. und dem Rücktritt der zaristischen Regierung bildeten Angehörige von in der Duma vertretenen bürgerlichen Parteien, der so genannte „progressive Block“ – eine Provisorische Regierung. Als Ministerpräsident wirkte der parteilose Fürst Lwow, Außenminister wurde Pawel Miljukow, Mitglied der Kadettenpartei, Kriegsminister Alexander Gutschkow, Großindustrieller und Oktobrist. Justizminister wurde der Jurist und Sozialrevolutionär Alexander Kerenski. Die meisten weiteren Mitglieder der Provisorischen Regierung gehörten der liberal-bürgerlichen Kadettenpartei an. Die sozialistischen Parteien waren nicht vertreten. Sie gingen einen anderen Weg und bildeten am gleichen Tag den Petrograder Sowjet, der ebenfalls die Macht beanspruchte. Am 15. März trafen sich Vertreter des Duma-Komitees und des Exekutivkomitees des Sowjets. Sie einigten sich auf ein Acht-Punkte-Programm, das unter anderem die Wahl einer konstituierenden Versammlung vorsah. Auf dieser Basis rief der Sowjet zur Unterstützung der Regierung auf. Die im Sowjet vertretenen sozialistischen Parteien beteiligten sich nicht an der Regierung. Die einzige Ausnahme bildete Alexander Kerenski, der in beiden Organen vertreten war. Der Vorsitzende des Petrograder Sowjets, der Menschewik Nikolos Tscheïdse lehnte den Posten des Arbeitsministers ab.

Der Sowjet behielt sich die Kontrolle der Provisorischen Regierung vor. Diese Konstellation wurde als „Doppelherrschaft“ bekannt.

 

Stimmung in der Bevölkerung

 

Orlando Figes beschreibt die Aufbruchsstimmung unter den Arbeitern und Bauern im Frühjahr 1917: Zwischen Mitte April und Anfang Juli streikten über eine halbe Million, nicht nur in den Großbetrieben. „Handwerker, Kunsthandwerker, Waschfrauen, Färber, Barbiere, Küchenarbeiter, Kellner, Lastträger, Chauffeure und Hauspersonal – nicht nur aus den beiden Hauptstädten, sondern auch aus den Provinzstädten im gesamten Reich – standen neben Streikveteranen wie den Metall- und Textilarbeitern. Sogar die Prostituierten traten in den Ausstand.“ Ihre Forderungen waren meist wirtschaftlicher Art. Sie wollten höhere Löhne, eine zuverlässigere Lebensmittelversorgung und bessere Arbeitsbedingungen. Vor allem im Achtstundentag sahen die Arbeiter das Symbol all ihrer Rechte und des Siegs in der Revolution. Da die Arbeiter ihn oft erzwangen, indem sie nach acht Stunden einfach gingen, akzeptierten die Unternehmer schließlich den Achtstundentag. Am 10 März verkündeten 300 Petrograder Fabrikbesitzer seine Annahme. Auf dieser Grundlage wurde er den meisten anderen Städten eingeführt.

„Neu war auch, dass die Arbeiter das Gefühl der Würde stärker betonten. Sie waren sich jetzt ihrer selbst als ‚Bürger’ bewusst, als diejenigen, die die ‚Revolution gemacht hatten’ und waren nicht länger bereit, sich mit Missachtung behandeln zu lassen (...) Vertreter der Fabrikleitung, die sich im Ton vergriffen hatten, wurden symbolisch ‚weggekarrt’, manchmal buchstäblich in einem Schubkarren, und dann verprügelt oder in den Kanal oder die Senkgrube geworfen (...) Kellner in Petrograd demonstrierten Mit Spruchbändern mit der Aufschrift:

 

Wir fordern, Kellner als Menschen zu achten!

Nieder mit den Trinkgeldern: Kellner sind Bürger!“

 

Hauspersonal wollte mit ‚Sie’ statt mit ‚du’ angesprochen werden, Arbeiterinnen forderten gleichen Lohn wie die Arbeiter, Mutterschaftsurlaub bei voller Bezahlung und die Abschaffung der Kinderarbeit. „Viele Arbeiter wollten ein ‚neues moralisches Leben’ beginnen, das auf Gesetz und Persönlichkeitsrechten beruhte und in dem es weder Trunksucht noch Fluchen, Spielen oder das Schlagen von Frauen geben sollte.“

 

Lenins Briefe aus der Ferne

 

Eine Gruppe russischer Emigranten erfuhr in der Schweiz vom Ausbruch der Revolution in Russland. Lenins Ehefrau Nadeschdna Konstatinowa Krupskaja erinnert sich:

 

„Eines Tages nach dem Mittagessen, als sich Iljitsch gerade fertig machte, um in die Bibliothek zu gehen, und ich eben dabei war, das Geschirr wegzuräumen, suchte uns Bronskij auf: 'Wissen Sie’s noch nicht?' rief er aus. 'In Russland ist die Revolution ausgebrochen!' Und er erzählte uns den Inhalt der Telegramme, die soeben in einer Spezialausgabe erschienen waren. Als Bronskij aufbrach, gingen wir zum See. Es gab da eine Stelle, wo man unter einem Schutzdach alle Zeitungen sogleich nach ihrem Erscheinen anschlug.

Wir lasen die Telegramme immer wieder von Neuem. In der Tat, das war die Revolution. Iljitschs Gedanken begannen fieberhaft zu arbeiten ...“

 

Lenin nahm sofort Kurs auf eine klare Richtung, ohne Kompromisse: „Man muss die Bewegung verbreiten, die neuen Schichten aufwühlen, neue Initiativen erwecken, neue Gruppierungen ins Leben rufen und ihnen beweisen, dass nur ein Sowjet der Arbeiterdelegierten, die die Waffen in der Hand, die Macht übernimmt, imstande sein wird, den Frieden zu geben.“

 

Im ersten „Brief aus der Ferne“ vom 7. (20.) März1917, der am 21. Und 22. März in der Prawda erschien, gibt er eine Einschätzung der Provisorischen Regierung.

„Es sind die Vertreter der neuen Klasse, die in Rußland zur politischen Macht aufgestiegen ist, der Klasse der kapitalistischen Gutsbesitzer und der Bourgeoisie, die unser Land seit langem wirtschaftlich lenkt, die (...) die örtliche Selbstverwaltung, die Volksbildung, (...), die Duma, die Kriegsindustriekomitees usw. in ihre Hände nahm. Diese neue Klasse war Anfang 1917 schon beinahe ganz an der Macht; deshalb genügten schon die ersten Schläge gegen den Zarismus, um seinen Zusammenbruch herbeizuführen und so den Platz für die Bourgeoisie freizumachen. Neben dieser Regierung (...) ist die Hauptregierung entstanden, eine inoffizielle, noch unentwickelte und verhältnismäßig schwache Arbeiterregierung, die die Interessen des Proletariats und des ganzen ärmeren Teils der Stadt- und Landbevölkerung zum Ausdruck bringt. Das ist der Sowjet der Arbeiterdeputierten in Petrograd, der Verbindung mit den Soldaten und Bauern – und natürlich besonders, in erster Linie und mehr als mit den Bauern – mit den Landarbeitern sucht.“ Dieser Sowjet der Arbeiterdeputierten sei die „Keimzelle der Arbeiterregierung“, die die Interessen von neun Zehnteln der Bevölkerung vertritt, der für Frieden, Brot und Freiheit kämpft.

 

Im zweiten Brief aus der Ferne vom 22.(9.) März unter dem Titel „Die neue Regierung und das Proletariat“ setzt Lenin sich mit einem Artikel in der Londoner Times auseinander, in dem behauptet wird, dass die Sozialisten in Russland zwar die Errichtung einer Republik wollen, aber nicht imstande seien „irgendeine geordnete Regierung zu schaffen, sondern das Land unvermeidlich in eine innere Anarchie und eine äußere Katastrophe stürzen würden ...“ Lenin kontert: „Die Revolution war das Werk des Proletariats“ es fordert Brot, Frieden und Freiheit, es fordert die Republik, es sympathisiert mit dem Sozialismus. „Aber das Häuflein Gutsbesitzer und Kapitalisten mit den Gutschkow und Miljukow an der Spitze will sich über den Willen (...) der gewaltigen Mehrheit hinwegsetzen, will einen Pakt mit der zusammenbrechenden Monarchie schließen“, sie unterstützen, sie retten – so lautet Lenins Vorwurf. „Brot für das Volk und Frieden – das ist der Aufruhr, aber Ministerposten für Gutschkow und Miljukow – das ist Ordnung.“ Seine Schlussfolgerung: Die Idee der Bildung eines Überwachungsausschusses für die provisorische Regierung seitens des Sowjets – „Das ist das Richtige!“ Die Arbeiter fänden eine Stütze nur dort, wo sie vorhanden ist „bei den bewaffneten Volksmassen, die vom Proletariat, von den klassenbewussten Arbeitern organisiert und geführt werden.“

Diese Gedanken führt Lenin im dritten Brief „Über die proletarische Miliz“ vom 11. (24.) März weiter aus: Das Proletariat müsse , wenn es die Errungenschaften der gegenwärtigen Revolution behaupten und Frieden, Brot und Freiheit erringen wolle, die noch vorhandene Staatsmaschinerie zerbrechen und sie durch eine neue ersetzen, bei der „Polizei, Armee und Bürokratie mit dem bis auf den letzten Mann bewaffneten Volk zu einer Einheit verschmolzen sind.“ Es brauche eine wirkliche Volksmiliz „aus erwachsenen Bürgern beiderlei Geschlechts, die die Funktion der Volksarmee mit den polizeilichen Funktionen, (also) mit den Funktionen des wichtigsten und hauptsächlichsten Organs der staatlichen Ordnung, und der staatlichen Verwaltung verbindet.“ Dies macht er anschaulich an der Stadt Petrograd, die etwa 2 Mio. Einwohner zählte. Da blieben nach allen Abzügen ca. 750000 Menschen, die jeden 15. Tag Dienst in der Miliz leisten könnten und denen dafür Lohn seitens der Unternehmer weiterbezahlt werden müsse. „Eine solche Miliz würde dafür sorgen, dass die Demokratie kein hübsches Aushängeschild bleibt. (...) sondern eine wirkliche Erziehung der Massen zur Teilnahme an allen Staatsgeschäften darstellt.“ Wichtig ist ihm dabei die Rolle der Frauen: „... ohne die Frauen zum öffentlichen Dienst, zur Miliz, zum politischen Leben heranzuziehen, ohne die Frauen aus ihrer abstumpfenden Haus- und Küchenatmosphäre herauszureißen, kann keine wirkliche Freiheit gewährleistet werden, kann nicht einmal Demokratie, vom Sozialismus ganz zu schweigen, aufgebaut werden.“

 

Fahrt im plombierten Wagen

 

Lenins Frau Nadeschda Konstantinowa Krupskaja berichtet, dass Lenin von dem Moment an, als er von den Ereignissen in Rußland erfahren hatte, keinen Schlaf mehr habe finden können. Die Hauptfrage war, wie könnte eine Rückkehr nach Russland bewerkstelligt werden? Könnte man mit dem Flugzeug reisen? – Unmöglich. Sollte man sich einen Ausländerpass verschaffen, sich für stumm ausgeben? Sie neckte Iljitsch: „Du würdest einschlafen und sähest im Traum die Menschewiken und dann würdest du (...) ‚Kanaillen, Kanaillen’ brüllen ...“ Schließlich fand sich ein Weg, in dem der Parteisekretär der Schweizer Linken mit der deutschen Gesandtschaft eine Übereinkunft treffen konnte. Hintergrund war, dass im April 1917 das deutsche Oberkommando unter Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg und des Chefs der Obersten Heeresleitung, Erich Ludendorff, den dringenden Wunsch hatte, mit Russland einen Separatfrieden zu unterzeichnen, um den Zweifrontenkrieg zu beenden. Man versprach sich von der Rückkehr der russischen Revolutionäre eine weitere Schwächung der militärischen Position Russlands.

Jürgen Busche schildert im Freitag Nr. 13, vom 30.3.2017 die Abreise:

„Der Russentransport startete am 27. März im Hotel Zähringer Hof. In Zürich. Von dort ging es mit der Lokalbahn nach Schaffhausen und weiter nach Gottmadingen ins Reich. Hier überprüften deutsche Offiziere die 32-köpfige Reisegruppe, zu der neben Lenins Frau Nadeschda Konstantinowa Krupskaja und seiner Geliebten Inessa Armand auch der unvermeidliche Karl Sobelsohn, genannt Radek, gehörte. Es mussten Formulare ausgefüllt werden. Von den Zugtüren wurden drei verschlossen und plombiert. Für eine vierte Tür galt das nicht, denn diese war den deutschen Offizieren vorbehalten. Im Zug kennzeichnete ein Kreidestrich auf dem Boden die Grenze zwischen russischem und deutschem Territorium. Man reiste zweiter und dritter Klasse ...“ Kontakt mit sympathisierenden Enthusiasten wurde vermieden. „Man wollte ehrlich sagen können, man habe bei der Fahrt durch das Land, mit dem sich Russland im Krieg befand, mit keinem Deutschen gesprochen. Schwierigkeiten bereitete die Regelung des Rauchens. Die Russen wollten es sich nur auf der Toilette gestatten. Das führte aber dazu, dass diese Kabine immerzu besetzt war. Die Autorität Lenins wurde auch dieses Problems Herr.“

In Stockholm sollte Lenin sich neu einkleiden, was er jedoch nicht wollte. Vor allem von seinen schweren, genagelten Bergstiefeln mochte er sich nicht trennen. Radek überzeugte ihn mit dem Argument, „dass es wohl anginge, mit diesen Stiefeln das Pflaster der reichen Schweizer zu zertreten, aber nicht das von russischen Proletariern geschaffene.“ So kam man doch noch ins Warenhaus ...

 

Jürgen Busche geht auch auf eine „andere Handreichung“ ein, „die zu den am wenigsten offengelegten Vorgängen der Geschichte gehört.“ Demnach ließ man den Bolschewiki 50 Millionen Goldmark zukommen. „Mit diesem Geld konnten etwa 40 Zeitungen der Bolschewiki in ganz Russland gegründet und gesichert werden.“

 

Auf der Zugreise arbeitete Lenin sein in den Briefen aus der Ferne entworfenes Programm für den Übergang von der ersten Etappe der Revolution zur zweiten weiter aus. Das Ergebnis sind die so genannten „Aprilthesen“, mit denen in der Tasche Lenin mit den anderen Schweizer Exilanten am Finnischen Bahnhof in Petrograd am 3./16. April 1917 ankam.

 

Ankunft in Petrograd – Aprilthesen

 

Nadeschda Krupskaja schildet die Ankunft:

„Arbeiter, Soldaten und Matrosen von Pieter (Petrograd) kamen in Massen, um ihren Führer zu empfangen. Es waren auch viele Genossen da, die uns nahestanden. (...) Das Volk drängte sich gleich einem aufgewühlten Meer um uns. Wer die Revolution nicht erlebt hat, kann sich ihre majestätische Schönheit nicht vorstellen: die roten Fahnen, die Ehrengarde der Kronstädter Matrosen, die Scheinwerfer der Peter-und-Pauls-Festung, die die Straßen vom Finnländischen Bahnhof bis zum Ksesinskajaplalast beleuchteten, die Panzerwagen und die Kette der Arbeiter und Arbeiterinnen, die den Bahnsteig entlang aufgereiht standen. (...) die bolschewistischen Genossen führten Iljitsch in das Kaiserzimmer, in dem ihn Tscheïdse und Skobelew erwarteten. (...) Man brachte uns in den Ksesinskajapalast, in dem damals der Sitz des Zentralkomitees und des Komitees von Petrograd war. Oben bot man uns Tee an, und die Genossen von Pieter sprachen über die glückliche Ankunft. Aber Iljitsch lenkte die Unterhaltung auf die Frage, die ihn vor allem interessierte: Welche Taktik sollte man anwenden? Mengen von Arbeitern und Soldaten umringten immer noch das Haus. Iljitsch war gezwungen, sich auf dem Balkon zu zeigen und eine Rede zu halten. Die unmittelbaren Eindrücke von diesem Empfang, von diesem aufgewühlten Meer überschwemmten alles übrige. (...) Iljitsch war kaum aufgestanden als ihn die Genossen abholten, um ihn zu der Versammlung der bolschewistischen Mitglieder der allrussischen Konferenz der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten zu bringen. (...) Lenin setzte in zehn Thesen Punkt für Punkt seine Meinung über die Aufgaben der Bolschwiken auseinander.

Thesen (Auszüge)

1. (...) Einem revolutionären Kriege, der die revolutionäre Vaterlandsverteidigung wirklich rechtfertigen würde, kann das klassenbewusste Proletariat nur unter der Bedingung zustimmen:

a) des Überganges der Macht in die Hände des Proletariats und der sich ihm anschließenden ärmsten Teile der Bauernschaft;

b) des Verzichts (...) auf alle Annexionen;

c) des tatsächlichen und völligen Bruchs mit allen Interessen des Kapitals.

2. Die Eigenart der gegenwärtigen Lage in Rußland besteht in dem Übergang von der ersten Etappe der Revolution, die (...) die Bourgeoisie an die Macht brachte, zur zweiten Etappe, die die Macht in die Hände des Proletariats und der armen Schichten der Bauernschaft legen muss.

Dieser Übergang wird charakterisiert einerseits durch ein Höchstmaß von Legalität (Russland ist zur Zeit das freieste von allen kriegführenden Ländern), andererseits durch das Fehlen einer Gewaltherrschaft über die Massen, und endlich durch die blinde Vertrauensseligkeit der Massen gegenüber der Regierung der Kapitalisten, der ärgsten Feinde des Friedens und des Sozialismus. (...)

3. Keinerlei Unterstützung der Provisorischen Regierung, Aufdeckung der ganzen Verlogenheit aller ihrer Versprechungen, besonders der des Verzichts auf Annexionen. Entlarvung an Stelle der unzulässigen, Illusionen erweckenden „Forderungen“, diese Regierung, die Regierung der Kapitalisten, solle aufhören imperialistisch zu sein.

4. Anerkennung der Tatsache, dass in den meisten Arbeiterdeputiertenräten unsere Partei die Minderheit ist, vorläufig sogar in einer schwachen Minderheit gegenüber dem Block aller kleinbürgerlichen, opportunistischen, dem Einfluss der Bourgeoisie unterlegenen und diesen Einfluss im Proletariat zur Geltung bringenden Elemente, von den Volkssozialisten und Sozialrevolutionären (...) Solange wir in der Minderheit sind, ist unsere Arbeit die Kritik und Aufdeckung der Fehler, wobei wir gleichzeitig den unerlässlichen Übergang der gesamten Staatsgewalt auf die Arbeiterdeputiertenräte propagieren.

5. Nicht parlamentarische Republik (...), sondern eine Republik von Arbeiter-, Landarbeiter- und Bauerndeputiertenräten im ganzen Lande, von unten bis oben.

Abschaffung der Polizei, der Armee, des Beamtentums.

Entlohnung aller Beamten, die durchweg wählbar und jederzeit absetzbar sein müssen, nicht über den Durchschnittslohn eines qualifizierten Arbeiters.

6. Im Agrarprogramm Verlegung des Schwergewichts auf die Landarbeiterdeputiertenräte.

Enteignung des gesamten adligen Grundbesitzes.

Nationalisierung des gesamten Bodens im Lande; über ihn verfügen die örtlichen Landarbeiter- und Bauerndeputiertenräte. Schaffung von besonderen Deputiertenräten der armen Bauern. Errichtung von Musterwirtschaften aus allen großen Gütern (...) unter Kontrolle des Landarbeiterdeputiertenrates und auf öffentlichen Kosten.

7. Sofortige Verschmelzung aller Banken des Landes zu einer Nationalbank, die der Kontrolle des Arbeiterdeputiertenrates untersteht.

8. Nicht „Einführung“ des Sozialismus als unsere unmittelbare Aufgabe, sondern einstweilen nur sofortige Übernahme der Kontrolle der gesellschaftlichen Produktion und Verteilung der Erzeugnisse durch den Arbeiterdeputiertenrat. (...)

 

Dazu Krupskaja: „Im ersten Augenblick wurden die Genossen dadurch etwas in Verwirrung gesetzt. Viele unter ihnen dachten Iljitsch zeige in seinen Urteilen eine übertriebene Härte und es sei noch verfrüht, von einer sozialistischen Revolution zu sprechen.“

Lenin widerholte seine Rede kurz darauf vor einer im gleichen Haus tagenden Versammlung der bolschewistischen und menschewistischen Abgeordneten.

 

Damit hatte Lenin wie Orlando Figes kommentiert, „das Parteiprogramm auf den Kopf gestellt. Statt die Notwendigkeit einer ‚bürgerlichen Etappe’ der Revolution zu akzeptieren, wie es die Menschewiki und die meisten Bolschewiki taten, forderte Lenin eine neue Revolution‚ die die Macht in die Hände des Proletariats und der ärmsten Schichten der Bauernschaft legen müsse.“ Es entstand ein Tumult im Saal, die Thesen seien „Delirien eines Verrückten“, der einstige väterliche Freund Lenins und spätere Menschewik Plechanow bezeichnete sie in seiner Zeitschrift Die Union als „Wahnsinn“. Die Krupskaja erinnert sich an die Rede der Genossin Kollontaj, „die mit viel Wärme die Verteidigung der Ideen Iljitschs auf sich genommen hatte.“

 

In der nächsten Sendung am Do, 04.05.2017 geht es um Parteien und Akteure:

Menschwiki, SDAPR (B-Bolschewiki), Sozialrevolutionäre, Kadetten, Oktobristen. Es wird auch um die Frage gehen, wie sich die politischen Richtungen der russischen Linken unter dem Einfluss Lenins weiter differenzierten.

 

Schreibweisen und Rechtschreibung wurden angepasst.

Benutzte Literatur und Quellen:

Busche, Jürgen: 1917 Reise in den Umsturz, Freitag, Nr. 13, 30.3.2017.

Figes, Orlando: Die Tragödie eines Volkes, London 1996, München 2001.

Kohn, Richard (Hg.): Die russische Revolution in Augenzeugenberichten, München 1963 /1977.

Lenin, W.I.: Werke in 6 Bänden, Berlin 1989, Bd. III.

 

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