Russland 1917

die Kornilow-Affäre

Sendemanuskript vom 24.8.2017

Eine Sendereihe des Rosa Luxemburg Clubs Wiesbaden, Redaktion: Brigitte Forßbohm, Dr. Michael Forßbohm, Radio Rheinwelle: In Wiesbaden: 92,5 Mhz (UKW), 99,85 Mhz (Kabel) Internet livestream: www.radio-rheinwelle.de

Infos über die vollständige Sendereihe, Quellen und Literatur und Sendemanuskripte können Sie einsehen unter: https://www.brigitteforssbohm.de/russland-1917/

In diesem Jahr berichten wir in einer 10-teiligen Sendereihe über 1917 - das Jahr der russischen Revolution. In Russland spielte sich ein zwischen Februar und dem Jahresende politisches Drama ab, das die Welt bewegte und in Russland einen tiefen gesellschaftlichen Umbruch auslöste.

In dieser Sendung schildern wir die Ereignisse der Monate Juli und August 1917.

 

"Russland, reif für eine Revolution ..."

 

schreibt Eric Hobsbawm:

"kriegsmüde, und am Rande der Niederlage, war das erste Reich Mittel- und Osteuropas, das unter den Anstrengungen des Ersten Weltkriegs zusammenbrach. Eine Explosion war schon längst erwartet worden, wenn auch niemand Zeit und Auslöser der Detonation vorhersagen konnte. Nur wenige Wochen vor der Februarrevolution hatte sich Lenin in seinem Schweizer Exil gefragt, ob er sie wohl noch erleben würde. Die Zarenherrschaft brach zusammen, als Arbeiterinnen bei einer Demonstration am Internationalen Frauentag und die als notorisch militant bekannten Putilow-Metallarbeiter nach ihrer Aussperrung zu einem Generalstreik aufriefen und zum Marsch über den gefrorenen Fluss in die Hauptstadt aufbrachen, begleitet hauptsächlich von Forderungen nach Brot. Die Schwäche des Regimes wurde vollends deutlich, als sich die zaristischen Truppen, darunter sogar die bislang immer loyalen Kosaken, nach kurzem Zögern schließlich weigerten, gegen die Massen vorzugehen und sich mit Ihnen zu verbünden begannen. Als sie nach vier chaotischen Tagen schließlich zu offenen Meuterei ansetzten, dankte der Zar ab, um von einer liberalen "Provisorischen Regierung" ersetzt zu werden, der einiges an Sympathie und Unterstützung durch die Verbündeten im Westen galt, weil sie befürchtet hatten, dass das verzweifelte Zarenregime seinen Krieg beenden und einen Separatfrieden mit Deutschland schließen könnte. Vier völlig führungslose und von spontanen Aktionen auf den Straßen getragene Tage setzten dem Imperium ein Ende. Und mehr noch: Russland war derart bereit gewesen für eine soziale Revolution, dass sogar die Massen auf den Straßen in Petrograd die Abdankung des Zaren augenblicklich mit der Proklamation universeller Freiheit, Gleichheit und direkter Demokratie gleichsetzten. Lenins außergewöhnliche Leistung bestand darin, dass er aus diesen unkontrollierbaren anarchischen Volksaufstand in eine bolschewistische Macht transformieren konnte.

 

Revolutionäres Vakuum

 

Anstelle eines liberalen und konstitutionell geprägten Russlands, das fähig und bereit gewesen wäre, Deutschland zu bekämpfen, war ein revolutionäres Vakuum entstanden: auf der einen Seite eine machtlose 'Provisorische Regierung' auf der einen Seite, und auf der anderen Seite eine Unzahl von "Räten" der Bevölkerung, auf Russisch Sowjets, die überall wie Pilze aus dem Boden schossen. Sie hatten die effektive Macht in Händen, zumindest die regional begrenzte Vetomacht, aber keine Ahnung, was sie damit anfangen könnten, sollten oder müssten. Die verschiedenen Revolutionsparteien und Organisationen - bolschewistische und menschewistische Sozialdemokraten, Sozialrevolutionäre und unzählige kleinere Fraktionen der Linken, die aus der Illegalität aufgetaucht waren - versuchten sich in Versammlungen der Sowjets zu organisieren, zu koordinieren und einander zu überzeugen, obgleich ursprünglich nur Lenin sie als Alternative zur Regierung gesehen hatte. Von ihm stammte die Losung 'Alle Macht den Räten'. Ganz deutlich aber wurde, dass nur wenige Russen nach dem Sturz des Zaren überhaupt wussten, was die Namen der Revolutionsparteien bedeuten sollten, oder, wenn sie es wussten, welche Unterschiede in ihren rivalisierenden Appellen lagen. Was sie aber genau wussten, war, das sie überhaupt keine Autorität mehr akzeptieren würden, erst recht nicht die Autorität der Revolutionäre, die behaupteten, alles besser zu wissen.

 

Die Armen in den Städten forderten Brot, und die Arbeiter unter ihnen bessere Löhne und kürzere Arbeitszeiten. Den Bauern ging es wie eh und je um ein Stück Land. Allen Gruppen aber war die Forderung gemeinsam, dass der Krieg beendet werden sollte, obwohl die Massen der Bauernsoldaten, die die Armee bildeten, zunächst nicht gegen den Kampf an sich gewesen waren, sondern nur gegen die harte Disziplin und die schlechte Behandlung durch ihre Vorgesetzten. Wer ihre Forderungen übernahm – 'Brot, Friede, Land' -, fand sofort Unterstützung, und das waren Lenins Bolschewiken, deren kleine Truppe von nur wenigen Tausenden im März 1917 bis zum Frühsommer desselben Jahres auf eine Mitgliederzahl von einer Viertelmillion angeschwollen war. Im Gegensatz zur Mythologie des Kalten Krieges, die in Lenin im Grunde nur einen Organisator von Staatsstreichen sah, war seine - und der Bolschewiken – einzig wirkliche Leistung, dass er zu erkennen in der Lage war, was die Massen wollten, und dementsprechend eben auch wusste, dass er führen musste, indem er ihnen folgte. Als er beispielsweise erkannt hatte, dass die Bauern nicht dasselbe wollten wie die sozialistischen Programme, nämlich eine Aufteilung der Landwirtschaft in Familienbetriebe, da zögerte er keinen Augenblick, die Bolschewiken auf diese Form des ökonomischen Individualismus einzuschwören.

 

Auf der anderen Seite war der Provisorischen Regierung und ihren Sympathisanten nicht bewusst geworden, wie unfähig sie war, Russland dahin zu bringen, ihre Gesetze und Dekrete zu befolgen. Wo Unternehmer und Betriebsleiter die Arbeitsdisziplin wieder herzustellen versuchten, da erreichten sie nur eine weitere Radikalisierung der Arbeiter. Als die Provisorische im Juni versuchte, die Armee in eine neue Offensive zu treiben, da hatten die Bauernsoldaten endgültig genug. Sie kehrten zurück in ihre Dörfer, um gemeinsam mit ihren Familien an der Verteilung des Landes teilzuhaben. Die Revolution breitete sich denn auch entlang der Eisenbahnschienen aus, die sie in ihre Heimatorte zurückführten. Noch war die Zeit für den Sturz der Provisorischen Regierung nicht reif, doch in den Sommermonaten nahm die Radikalisierung in der Armee und in den größeren Städten immer mehr zu, vor allem immer mehr zu Gunsten der Bolschewiken. Die Unterstützung der Bauern galt in überwältigendem Maße den Sozialrevolutionären, den Nachkommen der Narodniki, deren linksradikaler Flügel sich den Bolschewiken immer mehr annäherte und nach der Oktoberrevolution für kurze Zeit mit ihnen sogar die Regierungsgewalt teilte.

 

Das Überleben der Provisorischen Regierung – eine Frage der Zeit

 

Nachdem die Bolschewiken – damals im wesentlichen eine Arbeiterpartei – die Mehrheit in den großen Städten, insbesondere in Moskau und Petrograd errungen hatten, und nachdem sie auch in der Armee an Boden gewinnen konnten, war das Überleben der Provisorischen Regierung nur noch eine Frage der Zeit.

Im August hatte sie an die revolutionären Kräfte in der Hauptstadt appellieren müssen, den Versuch eines konterrevolutionären Staatsstreichs durch den monarchistischen General Kornilow niederzuschlagen. Die radikale Strömung in ihrer Gefolgschaft drängte die Bolschewiken unaufhörlich zur Machtübernahme. Als der Augenblick dann da war, musste die Macht nicht einmal erfochten, sondern brauchte einfach nur noch übernommen zu werden. Es heißt, dass mehr Menschen während der Dreharbeiten zu Eisensteins Film "Oktober" 1927 verletzt wurden, als bei dem tatsächlichen Sturm auf den Winterpalast am 25. Oktober 1917. Die Provisorische Regierung hatte sich schlichtweg in Luft aufgelöst, nachdem niemand mehr zu ihrer Verteidigung übrig geblieben war." S. 84 ff.

 

Frank Deppe weist auf den inneren Zusammenhang der Bewegungen für Frieden, Brot und Land hin:

 

"Im Frühsommer 1917 hatten sich drei große politische Strömungen organisiert, die die Provisorische Regierung unter Handlungszwang setzten und den Einfluss der Bolschewiki erweiterten. Die Kriegsmüdigkeit erzeugte Meutereien in der Armee, die zur Bildung von Soldatenräten, aber auch zu massiver Desertion führten. Auf dem Lande breitete sich eine Bauernrebellion aus, die eine Aufteilung der Adelsgüter und einen allgemeinen Landausgleich forderten. Da die meisten Soldaten Bauern waren, bestand ein enger Zusammenhang zwischen diesen beiden Bewegungen (...)

Gleichzeitig radikalisierte sich die Arbeiterschaft. In den Betrieben selbst wurde um die Macht gekämpft. Dabei ging es einerseits um klassische gewerkschaftliche Forderungen wie Lohnerhöhungen und den 8-Stunden-Tag, andererseits um Formen der Arbeiterkontrolle. Neben den Arbeiterräten hatten sich Gewerkschaften und vor allem Betriebskomitees etabliert, die direkt von den Belegschaften gewählt wurden. Diese nahmen zugleich Aufgaben bei der Fortführung der Produktion – auch gegen den Willen der Unternehmer – und bei der Verhinderung von Massenentlassungen wahr." (S. 72 f.)

 

"Die Industriearbeiter waren zum Überleben darauf angewiesen, dass die Fabriken weiter produzierten, und dass - wenigstens zu minimaler Sicherheit - der Austausch zwischen Produzenten und Konsumenten sowie zwischen Stadt und Land, weiterging. Als sich das Chaos ausweitete, hatten sie ein gesteigertes Interesse an einer organisierten revolutionären Kraft, die daran gehen würde, diese Probleme zu lösen." (Theda Skocpol, zit. nach Deppe, S. 73))

 

Bolschewiki – deutsche Agenten?

 

Angesichts dieser Dynamik geriet die Provisorische Regierung immer mehr in die Defensive. Sie versuchte, das Heft wieder in die Hand zu bekommen, indem sie den Blick der Massen auf den äußeren Feind, auf Deutschland und Österreich - Ungarn lenkte. Doch die Mitte Juni begonnene Offensive an der Südwestfront, in der heutigen Ukraine, brach bald zusammen. Die Bauern und Arbeiter hatten den Krieg satt, desertierten zu Zehntausenden, verweigerten Marschbefehle oder schlossen lokale Waffenstillstände mit gegnerischen Truppen. Auch die in Petrograd stationierten Soldaten wollten ihr Leben nicht als "Kanonenfutter" riskieren. Gemeinsam mit den auf der Inselfestung Kronstadt stationierten Matrosen der baltischen Flotte und der organisierten Arbeiterschaft der Petrograder Großbetriebe demonstrierten sie Anfang Juli in der russischen Hauptstadt für Brot, Land und Frieden, forderten den Rücktritt der Provisorischen Regierung und die Übergabe der Macht an die Sowjets. Über diese Demonstration berichteten wir ausführlich in unserer letzten Radiosendung Ende Juni.

 

Während Massen von Arbeitern in Petrograd für den Rücktritt der Provisorischen Regierung demonstrierten, siegten die deutschen und österreichischen Truppen an der Südwestfront auf ganzer Linie. Die Petrograder Boulevardpresse schob den Bolschewiki die Schuld für diese Niederlage in die Schuhe. Plötzlich tauchten Dokumente auf, die beweisen sollten, dass Lenin und die von ihm geführte Partei der Bolschewiki deutsche Agenten seien. Eine antibolschewistische Hysterie brach aus. Die Provisorische Regierung nutzte die Gunst der Stunde, ließ die führenden Bolschewiki verhaften und die Parteizentrale samt der Redaktionsräume der Parteizeitung 'Prawda' verwüsten. Lenin und Sinowjew konnten im letzten Moment nach Finnland fliehen.

 

Orlando Figes schildert die Stimmung in Russland nach der gescheiterten Sommeroffensive:

 

"Die russische Armee zerfiel und wich Hals über Kopf von der Front zurück. ... Das Reich brach auseinander. Die selbsternannten Regierungen in Finnland und der Ukraine erklärten ihre Unabhängigkeit, während jeden Tag Berichte über neue Streiks, Anarchie bei den Eisenbahnen, Bauernüberfälle auf adlige Güter und Verbrechen und Chaos in den Städten brachte. Immer mehr Menschen schienen aus dem ganzen immer mehr die Lehre zu ziehen, dass Russland nur mit Gewalt zu regieren sei. ...

Als erste riefen die besitzenden Klassen nach Ordnung. "Das Vaterland ist in Gefahr" wurde ihre Parole. Hysterisch vor Angst, verspielten sie riesige Summen Geldes, verschleuderten ihren Besitz und lebten ein wüstes Leben für den Augenblick, als sei es der letzte Sommer der russischen Zivilisation. Immer mehr machte sich eine konterrevolutionäre Stimmung breit. Zeitungen forderten, die Bolschewiki zu hängen und den Petrograder Rat zu schließen. In Abwesenheit der führenden Bolschewiki, sie waren inhaftiert oder geflohen, wurde der Führer der Sozialrevolutionäre, Tschernow, als der neue "deutsche Spion" und als schwarzes Schaf der Rechten erkoren. Sozialistische Arbeiter wurden vom rechtsradikalen Schwarzhunderter-Mob verprügelt. Ehrbare Bürger der Mittelschicht fanden sich in mehreren rechtsgerichteten Gruppen zusammen, die Russlands Unglück auf die Juden schoben und nach der Wiedereinsetzung des Zaren oder eines anderen Diktators riefen, der Russland vor der Katastrophe retten solle. General Brussilow, der an der Spitze der russischen Armee stand und somit für die gescheiterte Offensive verantwortlich war, geriet schon bald in den Sog dieses Rechtsrucks. (...)

Der Mann, der ihn ersetzte, General Lawr Kornilow, hatte sich in rechtsgerichteten Kreisen bereits den Status des 'Retters der Nation' erworben." (S. 467 f.)

 

Kornilow: Das Herz eines Löwen und das Hirn eines Schafs ...

 

Über Kornilow wurde gesagt, er habe 'das Herz eines Löwen und das Hirn eines Schafs'. Dieses Zitat wird sowohl seinem Vorgänger General Brussilow oder seinem Nachfolger General Alexejew zugeschrieben.

 

Orlando Figes schildert Kornilows Vorgehen wie folgt:

 

"Die meisten politischen Erklärungen Kornilows waren von seinem Vertrauten, Boris Sawinkow, Kerenskis stellvertretendem Kriegsminister, für ihn geschrieben worden. Sawinkow – Dichter, 'Freiheitskämpfer' und Spieler – war in seiner Jugend eine legendäre Figur im terroristischen Flügel der Sozialrevolutionäre gewesen. Um die Jahrhundertwende war er an Ermordung mehrerer Regierungsbeamter, einschließlich Plehwes, verwickelt. Und wie viele Terroristen hatte er einen stark autoritären Zug. 'Sie sind ein Lenin, aber von der anderen Seite' sagte Kerenski einmal zu ihm. Nach einer gewissen Zeit im Exil kehrte Sawinkow 1917 nach Russland zurück und schloss sich der Bewegung gegen den Arbeiter- und Soldatenrat an, den er verächtlich 'Rat der Ratten-, Hühner- und Hundedeputierten' nannte. Er war es, der Kornilows Ernennung einfädelte, zunächst, am 8. Juli, zum Kommandeur der Südwestfront, und dann, zehn Tage später, zum Oberbefehlshaber (...)

Unmittelbar nach seiner Ernennung begann Kornilow, Kerenski seine eigenen Bedingungen zu diktieren. Während der kurzen Zeit als Befehlshaber an der Südwestfront schaffte er es, Kerenski zur Wiedereinführung der Todesstrafe an der Front zu zwingen. Kornilow hatte sie bereits auf eigene Verantwortung praktiziert und befohlen, alle Deserteure zu erschießen. Nun verlangte er als Bedingung für die Übernahme des Oberkommandos die Ausweitung des Geltungsbereichs der Todesstrafe auf das Hinterland, während er sich selbst als Kopf der Armee lediglich ´seinem Gewissen und der Nation insgesamt´ verantwortlich fühlen werde. Das war im Grunde eine Herausforderung an die Autorität der provisorischen Regierung, die Kornilow eindeutig für eine Gefangene des Petrograder Rats hielt und, obgleich er unter dem Druck Kerenskis schließlich genötigt wurde, dieses Ultimatum zurückzuziehen, blieb die Stoßrichtung seiner Absichten klar. In den folgenden Tagen legte er Kerenski eine Reihe von so genannten ´Reformen´ vor, die Sawinkow entworfen hatte. Der erste davon beschränkte sich strikt auf das Militär und schlug folgendes vor: der Macht der Soldatenkomitees ein Ende zu bereiten, Meetings der Soldaten an der Front zu verbieten und die revolutionären Regimenter aufzulösen. Nach dem 3. August aber wurde der Rahmen der ´Reformen´ drastisch erweitert, und umfasste nun auch die Verhängung des Ausnahmezustands im ganzen Land, die Wiedereinführung der Todesstrafe für Zivilisten, die Militarisierung der Eisenbahnen und der Rüstungsindustrie mit einem Verbot von Streiks und Arbeitermeetings unter Androhung der Höchststrafe, sowie obligatorische Produktionsquoten, wobei diejenigen, die sie nicht erfüllten, sofort entlassen werden sollten. Das Ganze war praktisch die Forderung nach der Errichtung einer Militärdiktatur." (S. 469 f.)

 

Polarisierung und "Staatsberatung" in Moskau – Kornilow verlangt Rücktritt des Kabinetts

 

"In einem letzten verzweifelten Versuch", schreibt Figes, "die Nation hinter sich zu bringen, berief Kerenski eine Staatsberatung in Moskau ein. Sie fand von 12.-14 August im Bolschoi-Theater statt. Kerenski hoffte, die Konferenz werde Links und Rechts versöhnen, und wies dem Bemühen, die politische Mitte zu stärken, von der er abhing, den gemäßigten Delegierten der Semstwos und Kooperativen eine große Anzahl Sitze zu (...)

Aber die Polarisierung Russlands spiegelte sich genau in der Sitzordnung im Auditorium wieder. Auf der rechten Seite der Logen saßen die Parteien der Mittelschicht, die Bankiers, Industriellen und Duma-Vertreter in ihren Gehröcken und gestärkten Kragen, während links, ihnen gegenüber wie in einer Schlacht, die Rätedeputierten in ihren Arbeiterhemden und Soldatenuniformen saßen (...)

Die Bolschewiki hatten beschlossen, die Konferenz zu boykottieren und riefen zu einem stadtweiten Streik auf. Die Straßenbahnen fuhren nicht, und Restaurants und Cafés, einschließlich dessen im Bolschoi-Theater selbst, hatten geschlossen, so dass sich die Konferenzdelegierten um ihre Erfrischungen selbst kümmern mussten." (S. 473)

 

Zu dieser Konferenz schreibt David Shub in seiner 1948 in den USA, 1952 in Deutschland im Limes Verlag Wiesbaden erschienen Lenin-Biografie:

 

"Trotz vieler ausgezeichneter Reden und Äußerungen des guten Willens erreichte die Moskauer Konferenz gar nichts. Die Linke war durch Kornilows Forderungen beunruhigt. Die Rechte erklärte, dass sie Kerenskis 'schwülstige Versprechungen' satt hätte.

Am 21. August nahmen die deutschen Heere Riga ein, wodurch die Verbindungen mit der Hauptstadt bedroht wurden. Unmittelbar darauf verlangte Kornilow die vollständige Gewalt über die Garnison von Petrograd. Am 23. August traf Sawinkow in Kornilows Hauptquartier in Mogiljew mit Kerenskis Bedingungen ein. Es wurde abgemacht, dass der Petrograder militärische Bezirk unter Kornilows Befehl kommen sollte, aber Kerenski bestand darauf, dass die Stadt der Provisorischen Regierung selbst zu unterstellen sei. Der Premierminister verlangte auch die Auflösung des reaktionären Offiziersbundes und der politischen Abteilung beim Hauptquartier. Zum Schluss forderte Kerenski die Entsendung eines Kavalleriekorps, um den Belagerungszustand in Petrograd aufrechterhalten zu können und die ´Provisorische Regierung gegen alle Angriffe, besonders seitens der Bolschewiken, zu beschützen´. Kerenski betonte jedoch, dass er weder die `Wilde Division´, die sich aus kaukasischen Stammesangehörigen zusammensetzte, noch General Krimow in der russischen Hauptstadt haben wolle.

Am 25. August verlangte Kornilow den Rücktritt des Kabinetts und die Übertragung aller militärischen und zivilen Gewalt auf den Oberstkommandierenden (ohne seine Rolle als Diktator deutlich zu bezeichnen).

Am 27. August entließ Kerenski Kornilow und beorderte ihn zurück nach Petrograd. Kornilow reagierte, indem er mit seiner Kavallerie auf Petrograd losging. Es war ein kühner Schachzug, um sich in den Besitz der Macht zu setzen, aber er verfehlte sein Ziel, als der Sowjet seine Arbeiter und Soldaten aufrief, die Revolution zu verteidigen. Die Eisenbahnarbeiter weigerten sich, Kornilows Truppen zu transportieren, Telegrafenbeamte gaben seine Befehle nicht weiter und Agitatoren überredeten Kornilows Kosaken, nicht zu kämpfen. Die Arbeiter von Petrograd bildeten eine Miliz, die später die Rote Garde der bolschewistischen Revolution werden sollte. Tatsächlich wurde überhaupt nicht gekämpft. Kornilows Truppen lösten sich auf, bevor sie die Stadt erreicht hatten.

Am 30. August wurde Kerenski Oberkommandierender Kornilow wurde verhaftet. Am 1. September wurde in Russland die Republik ausgerufen. Tags zuvor hatte der Petrograder Sowjet zum ersten Male ein rein bolschewistische Resolution eingebracht, die angenommen wurde." (S. 250 f.)

 

So hatten sich die Machtverhältnisse verschoben. Kerenski setzte nach der verlorenen Offensive an der Südwestfront auf die rechte Karte, auf Kornilow. Dieser wollte ihn aber an den Rand drängen und selbst Militärdiktator werden. Das verhinderten die organisierten Arbeiter; ihnen verdankte Kerenski den Erhalt seiner Macht.

 

Shub resümiert:

 

"Die Kornilow-Affäre vollzog den endgültigen Bruch zwischen Kerenski und der Armeeleitung und den konservativen Elementen. Danach war Kerenski der Gnade des Petrograder Sowjets ausgeliefert. Er hatte keine zuverlässigen militärischen Kräfte zur Verfügung. Unter den neuen Verhältnissen wurden die bolschewistischen Führer, die im Juli verhaftet worden waren, in Freiheit gesetzt. Kornilows verunglückter Putsch war für die bolschewistische Sache ein Göttergeschenk gewesen, das ihnen weit mehr zurückgab als sie im Juli eingebüßt hatten. Der bolschewistische Einfluss bei den Soldaten, Arbeitern und Bauern nahm mit großer Beschleunigung zu." (S. 251)

 

Lenin äußerte sich am 30. August wie folgt:

 

"Sogar jetzt dürfen wir (die Bolschewiki) Kerenskis Regierung nicht unterstützen (...)

Wir müssen die Art unseres Kampfes gegen Kerenski ändern. Obgleich wir nicht um ein Jota in unserer Feindseligkeit gegen ihn nachlassen werden, nicht ein Wort, das wir gegen ihn gesagt haben, zurücknehmen, das Ziel ihn zu stürzen nicht aufgeben, sagen wir doch: wir müssen mit den momentanen Zuständen rechnen. Im Augenblick werden wir Kerenski nicht stürzen; wir müssen nur eine andere Art ihn zu bekämpfen wählen; wir werden nämlich dem Volk (das Kornilow bekämpft) die Schwäche und das Schwanken Kerenskis zum Bewusstsein bringen. Das ist schon früher geschehen. Aber jetzt ist es die Hauptsache geworden. Darin liegt die veränderte Methode." (Lenin, zit. nach Shub, S. 251 f.)

 

Soweit für heute mit der Betrachtung der Ereignisse am Vorabend der Oktoberrevolution. In vier Wochen, am 21. September, sprechen wir über Lenins Schrift "Staat und Revolution", in der er die theoretischen Grundlagen für die Übernahme der Macht in Russland durch die Bolschewiki darlegt.

 

Literatur und Quellen:

Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme, München 1998.

Frank Deppe: 1917 / 2017 - Revolution & Gegenrevolution, Hamburg 2017.

Orlando Figes: Die Tragödie eines Volkes, London 1996, München 2001.

David Shub: Lenin, Wiesbaden 1952.

 

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