Russland 1917

Militär ohne Führung – Julikrise

Sendemanuskript

Vier Phasen von der Abdankung des Zaren bis zur bolschwistischen Machtergreifung

 

Nach Isaac Deutscher kann der  „Verlauf der Ereignisse von der Abdankung des Zaren bis zur bolschewistischen Machtergreifung , grob gesprochen, in vier Phasen eingeteilt werden:

 

In der ersten Phase, die vom 2. März bis zum 3. Mai (nach altrussischem Kalender) dauerte, hielten die konservativen und liberalen Führer der Grundbesitzer und des Bürgertums die Regierungszügel allein in Händen und versuchten, die de-facto-Republik nach ihrer Vorstellung und ihrem Willen zu gestalten. Zu Beginn dieser Phase akzeptierten die Führer des Petrograder Sowjets die Autorität der provisorischen Regierung. An ihrem Ende waren die Vertreter der liberalen Grundbesitzer und der Bourgeoisie nicht mehr fähig, allein zu herrschen. Die erste provisorische Regierung hatte sich im Verlauf der Revolution verbraucht.

 

In der nächsten Phase vom 3. Mai bis zum 2. Juli versuchte die erste Koalition dr Liberalen und der gemäßigten Sozialisten, das bürgerliche demokratische Regime zu retten. In dieser Koalition, in der noch immer Fürst Lwow den Vorsitz führte, waren die Liberalen (Kadetten) die bevorrechtigten Partner; aber sie konnten sich nur dank der Unterstützung der untergeordneten Partner, die zu dieser Zeit über eine starke Mehrheit in den Sowjets verfügten, im Amte halten. Die Notwendigkeit fü eine Koalitionsregierung zeigte, dass das bürgerlich-liberale Regime der Gnade des gemäßigten Sozialismus ausgeliefert war, während der gemäßigte Sozialismus von der Gnade der Sowjets abhing. Indem die Führer des gemäßigten Sozialismus der liberalen Bourgeoisie ihre Unterstützung gewährten, stießen sie in den Augen ihrer Anhänger ihre eigenen Grundsätze um. Gegen Ende dieser Phase mussten sie sich in die Unpopularität ihrer Kadettenpartner teilen. Sie hätten sich retten können, wenn sie die Partnerschaft aufgelöst und die Macht allein übernommen hätten, aber sie konnten sich nicht zu diesem Schritt entschließen.

 

Die dritte Phase vom 3. Juli bis zum 30. August wurde durch einen missglückten revolutionären Schlag eröffnet.“

 

Dazu David Shub:

 

„Viele Wochen vor dem Juli-Aufstand wurde Russland mit bolschewistischen Zeitungen und Proklamationen überschwemmt. Bolschewistische Agitatoren entwickelten eine fieberhafte Tätigkeit bei den Truppen an der Front, bei den Matrosen der baltischen Flotte, den Truppen, die in den wichtigsten Städten in Garnison lagen, und bei den Bauern. Den Soldaten wurde geraten, mit den Deutschen zu fraternisieren, den Bauern, sich des Landes zu bemächtigen, ohne die konstituierende Versammlung abzuwarten. Die an der Front verteilten und in den Schützengräben gelesenen bolschewistischen Armeezeitungen empfahlen den Truppen, ihre Waffen niederzulegen und in ihre Dörfer zurückzukehren.

 

Am 16. Juni (nach altrussischem Kalender) forderte Kriegsminister Kerenskij die Offiziere und Soldaten des russischen Heeres auf, in einer groß angelegten Offensive an der südwestlichen Front dem Feind einen harten Schlag zu versetzen; das Zentral-Exekutivkomitee der Sowjets unterstützte Kerenskij mit einem Aufruf an das Heer. Der Hauptzweck dieser Offensive war, die Deutschen zu zwingen, die Divisionen an die russische Front zurückzubringen, die sie an die französische Front geworfen hatten, um eine allgemeine Offensive gegen die westlichen Alliierten einzuleiten. Gleichzeitig hoffte die Provisorische Regierung, dass dadurch der russische Kampfgeist wieder geweckt werden würde. Am 18. Juni 1917 ging General Brussilow zum Angriff an der galizischen Front über. Anfangs erzielten die Russen gegen die österreichische Armee beachtliche Erfolge, aber die russische Offensive ebbte bald ab. Um den 6. Juli machten die Deutschen einen Gegenangriff mit starken Kräften und begegneten nur unentschlossenem russischen Widerstand.

 

Bei den Truppen in Petrograd und den Matrosen in Kronstadt war die Kerenskij - Offensive von Anfang an unpopulär gewesen, und noch bevor die Brussilow - Offensive im Abklingen war, lagen schon neue Revolten in der Luft.“ (S. 229 f.)

 

Und Isaac Deutscher:

 

„Im Juni nahm die Revolution eine eigenartige Wendung. Die Bolschewisten hatten bereits einen großen Teil der Arbeiter und der Garnison der Hauptstadt hinter sich, aber in den Provinzen übten die gemäßigten Sozialisten immer noch den größeren Einfluss aus. Lenin und Trotzki hofften, dass dieses „Nachhinken“ der Provinzen hinter der Hauptstadt bald aufhören würde. In der Zwischenzeit waren sie darauf bedacht, jeder entscheidenden Kraftprobe aus dem Weg zu gehe; sie wollten eine solche Kraftprobe so lange verschieben, bis sie einigermaßen sicher sein konnten, dass sie Sieger blieben und eine in der Hauptstadt errichtete bolschewistische Regierung nicht durch Streitkräfte aus den Provinzen unterdrückt werden würde. Doch die Ungeduld ihrer eigenen Anhänger in Petrograd führte zu dem misslungenen Aufstand der Julitage. Am 3. Juli(nach altrussischem Kalender) unternahm das erste Regiment der Maschinengewehrschützen, dem sich Matrosen und Massen von Arbeitern anschlossen, eine bewaffnete Demonstration; sie belagerten den Sitz des Petrograder Sowjets und forderten drohend die gemäßigten Sozialisten auf, die Macht den Räten zu übergeben, in denen sie selbst die Mehrheit hatten. Das bolschewistische Zentralkomitee versuchte die Bewegung im Zaum zu halten und ihre Entwicklung zu einem wirklichen Aufstand zu verhindern. Die Regierung brachte von der Front Truppen in die Hauptstadt und unterdrückte die Demonstration. Inmitten dieser Unruhen traf in Petrograd die Nachricht vom Zusammenbruch der Russischen Offensive an der Südwestfront ein – die Operation war seit dem 18. Juni in Gang. Die Niederlage, die zum endgültigen Zerfall der Armee führen sollte, gab Anlass zu heftigen gegenseitigen Beschuldigungen. Die Bolschewisten machten sich zum Sprachrohr der schlecht bewaffneten, unterernährten und schlecht gekleideten Soldaten und bezichtigten die Regierung der Unfähigkeit, dem Spekulantenunwesen, das an Nahrungsmittel- und Kleidungsmangel der Truppen trug, ein Ende zu bereiten: sie beschuldigten Kerenskij, den Kriegsminister, die Offensive auf den Druck er Westmächte hin unternommen zu haben, und sie führten die Lage an der Front als ein Argument für den Frieden an. Die Regierung ihrerseits schrieb die Niederlage dem umstürzlerischen Einfluss der bolschewistischen Agitatoren in den Schützengräben zu. Während die Julidemonstrationen unterdrückt wurden, klagte man die bolschewistischen Führer an, im Dienste des deutschen Generalstabes zu stehen. Die Anklage, die von einer Boulevardzeitung ihren Ausgang nahm und mir gefälschten Dokumenten belegt wurde, entfachte einen Sturm der Entrüstung, der es der Regierung leicht machte, der Partei Lenins empfindliche Schläge zu versetzen. Offiziersvereinigungen und andere rechts stehende Verbände überfielen das bolschewistische Hauptquartier, zerstörten die Redaktionsräume der Prawda und unternahmen Strafexpeditionen in die bolschewistischen Vorstädte. Am 6. Juli ordnete die Regierung die Verhaftung Lenins, Sinowjews, Kamenjews, Kollontais und anderer bolschewistischer Führer an. Lenin und Sinowjew tauchten in einem versteck unter, an dem sie erst am Tag der Oktoberrevolution hervorkommen sollten. Trotzki, Kamenjew und andere wurden verhaftet. Am 12. Juli führte die Regierung wieder die Todesstrafe für Vergehen gegen die militärische Disziplin an der Front ein. Am 18. Juli wurde General Kornilow an Stelle von General Brussilow zum Oberkommandierenden ernannt.“

 

Die weiteren Vorgänge schildert Orlando Figes:

 

„Die Kaserne des ersten Maschinengewehrregiments war zweifellos die bedrohlichste Bastion der regierungsfeindlichen Macht auf der Wyborger Seite. Mit 10.000 Mann und 1000 Maschinengewehren stellte es die bei weitem größte Einheit in der Hauptstadt dar. Die meisten ihrer Soldaten waren wegen Aufsässigkeit aus ihren Fronteinheiten ausgeschlossen worden und als hoch qualifizierte und militante Soldaten für die Propaganda der Bolschewiki ebenso wie die der Anarchisten sehr empfänglich. Die von diesem Regiment übernommene Kaserne auf der Wyborger Seite lag mitten zwischen den streikwilligsten Metallfabriken der Hauptstadt, direkt neben dem Hauptquartier der Bolschewiki. Das Regiment war für die Bolschewiki so wichtig, dass ihre Militärorganisation dort eine eigene Zelle hatte.

 

Am 20. Juni erhielt das 1. Maschinengewehrregiment den Befehl, 500 Maschinengewehre samt Mannschaft an die Front zu schicken, wo sie zur Unterstützung der Offensive bitter nötig seien, wie es hieß. Seit der Februarrevolution war nicht eine einzige Einheit der Petrograder Garnison an die Front verlegt worden. Das war eine der Bedingungen gewesen, die der Petrograder Rat bei der Bildung der Provisorischen Regierung gestellt hatte. Die Soldaten glaubten, dass sie 'die Revolution gemacht' hätten und daher das Recht hätten, in Petrograd zu bleiben, um die Stadt gegen eine 'Konterrevolution' zu verteidigen. Die Provisorische Regierung wusste nur allzu gut, dass sie sich in der Gewalt der Garnison mit ihren 250.000 Mann umfassenden Truppen befand. Bisher hatte sie nicht gewagt, Truppen aus der Hauptstadt zu entfernen. Im Juni jedoch musste sie sich von der Anwesenheit dieser Maschinengewehrschützen in ihrer Existenz bedroht fühlen, weshalb eines der Hauptziele der Offensive zweifellos war, das Regiment an die Front zu verlegen. Außenminister Tereschtschenko gab dies jedenfalls gegenüber dem britischen Botschafter zu, als er im Juni behauptete, dass die Offensive 'uns ermöglichen wird, Maßnahmen gegen die Garnison in Petrograd zu ergreifen, die bei weitem die schlimmste und den anderen ein schlechtes Beispiel' ist, während Kerenskij wiederholt betonte, dass es das Ziel der Offensive sei, die Ordnung im Hinterland wieder herzustellen. Lwows private Aufzeichnungen, die vor kurzem in den russischen Archiven entdeckt worden sind, dass die Regierung im Mai und Juni ernsthaft überlegte, die Hauptstadt nach Moskau zu verlegen. Immer wieder kamen Gerüchte auf, dass Petrograd den Deutschen überlassen werden sollte, und in der „patriotischen“ Mittelschicht beteten viele darum, sie mögen sich bewahrheiten (es war ein Gemeinplatz bei Abendgesellschaften, dass nur der deutsche Kaiser die Ordnung wieder herstellen könne).Sollte es tatsächlich die Absicht der Regierung gewesen sein, die Offensive als Vorwand zu nutzen, um die Maschinengewehrschützen zu verlegen, dann hatte sie dies sehr plump und töricht eingefädelt. Sie hätte die Soldaten leicht ins Hinterland verlegen können, etwa in eine ferne Provinz wie Tambow, um dort 'die Revolution zu verteidigen'. Indem man sie aber an die Front schickte und damit die Bedingungen des Petrograder Rats überging, verlieh man der Behauptung der Soldaten Glaubwürdigkeit – wie sie von Agitatoren der Bolschewiki und der Anarchisten in ihrem Regiment vorgebracht wurde – dass die Regierung die Offensive nutze, um die Garnison aufzulösen, folglich 'konterevolutionär' sei. Seit der Aprilkrise hatten die Soldaten die Anstrengungen der Regierung, den Krieg fortzusetzen, mit wachsendem Misstrauen verfolgt – machte sie das nicht zu 'Imperialisten'? -, und in diesem Klima des Misstrauenswirkten solche Verschwörungstheorien überzeugend.

 

Am 21. Juni beschlossen die Maschinengewehrschützen, die provisorische Regierung zu stürzen, fall sie weiterhin bei der Drohung blieb, „dieses und weitere revolutionäre Regimenter aufzulösen“, indem sie sie an die Front schickte. Dutzende anderer Einheiten, die Befehl hatten, sich an der Offensive zu beteiligen, verabschiedeten ähnliche Resolutionen. Die bolschewistische Militärorganisation unterstützte den Plan eines bewaffneten Aufstands und verwandelte sich tatsächlich in den Operationsstab für die Eroberung der Hauptstadt. Das Zentralkomitee bestand allerdings weiter auf Zurückhaltung. Es war derselbe taktische Konflikt wie am 10. Juni, bei dem die ultralinken Führer des Wyborg-Komitees und die Militärorganisation, die begierig waren, über die Gewalttätigkeiten der Petrograder Avantgarde an die Macht zu gelangen, den vorsichtigeren nationalen Parteiführern gegenüberstanden, die fürchteten, dass ein gescheiterter Aufstand einen antibolschewistischen Gegenschlag im ganzen Land auslösen könnte. Die Provinz, so behaupteten sie, sei noch nicht bereit für eine sozialistische Revolution, und die vorzeitige Machtergreifung in der Hauptstadt würde wahrscheinlich zu einem Bürgerkrieg führen, in dem das rote Petrograd wie die Pariser Kommune durch die Provinzen besiegt würde. So argumentierte selbst Lenin am 20. Juni auf einer Konferenz der bolschewistischen Militärorganisationen. Er betonte die Notwendigkeit, den bewaffneten Aufstand zu vertagen und allen Provokationen durch die 'Konterrevolutionäre' zu widerstehen, bis die Offensive vorbei sei und die Bolschewiki eine Mehrheit in den Räten gewonnen hätten:

 

'Eine falsche Bewegung unsererseits kann alles zerstören […] wenn wir jetzt die Macht ergreifen könnten, wäre es naiv zu glauben, wir könnten sie auch halten […] selbst in den Sowjets beider Hauptstädte, ganz zu schweigen von den anderen, sind wir in einer unbedeutenden Minderheit […] Das ist eine Grundtatsache und sie bestimmt das Verhalten unserer Partei […] Ereignisse sollten nicht vorweggenommen werden. Die Zeit ist auf unserer Seite.'

 

Doch Lenin hatte seine Stellvertreter kaum unter Kontrolle. Am 29. Juni klagte er über Kopfschmerzen und Erschöpfung und brach zu einem Besuch der Datscha eines Freundes in Finnland auf. Die Kontrolle der Partei entglitt ihm, als die Militärorganisation die Erhebung vorbereitete. Bolschewistische und anarchistische Agitatoren drängten die Maschinengewehrschützen, am 3. Juli zu einer bewaffneten Demonstration auf die Straße zu gehen. Ein Regimentskonzert im Volkshaus am 2. Juli zur Verabschiedung der Soldaten, die für die Front vorgesehen waren, wurde in eine regierungsfeindliche Versammlung umfunktioniert, auf der Trotzki und Lunatscharski die Übergabe aller Macht an die Räte forderten. Als die Truppen in ihre Kasernen zurückkehrten, waren sie zu erregt, um schlafen zu können. Sie verbrachten die ganze Nacht und den folgenden Morgen mit Diskussionen darüber, ob sie sich dem Aufstand anschließen sollten oder nicht. Viele lehnten es ab, entgegen den Anweisungen des Petrograder Rats Gewalt einzusetzen. Andere wiederum wollten unbedingt am Aufstand teilnehmen, weil sie darin ihre letzte Chance sahen, sich der Einberufung an die Front zu widersetzen, oder vielleicht einfach, weil sie einer ihrer Losungen – „Schlagt die burschuis!“ – Folge leisten wollten. Sie wählten ein provisorisches Revolutionskomitee, an dessen Spitze der Bolschewik A.I. Semaschko von der Militärorganisation stand, das die Führung des Aufstandes übernahm und Boten aussandte, die die übrigen Einheiten der Garnison, die Fabriken in Wyborg und die Marinebasis in Kronstadt zur Unterstützung mobilisieren sollten.“ (S. 446 ff.)

 

Vor Petrograd liegt eine Insel, auf der Peter der Erste 1704 Festungsanlagen und Siedlungen errichten ließ und die er Kronstadt nannte. Dort war 1917 die Baltische Flotte mit ca. 30.000 Matrosen und Offizieren stationiert. Auf der Insel lebten zusätzlich ca. 50.000 Zivilisten.

 

Am 28. Februar revoltierten die Kronstädter Matrosen, töteten zahlreiche Offiziere, setzten den Befehlshaber Admiral Wiren ab und sperrten Hunderte von Offizieren, Gendarmen und Militärbediensteten ein. Nach Abschluss von Wahlen konstituierte sich am 5. Mai der Kronstädter Sowjet. Er erklärte, dass er autonom die Macht auf der Insel ausübe und er die Provisorische Regierung in Petrograd nicht anerkenne.

 

Das Ende der Provisorischen Regierung? – Lenin zögert

 

"Obgleich das Zentralkomitee der Bolschewiki beschlossen hatte, die Aktion abzublasen, wurde der Befehl zur Mobilisation in Kronstadt nicht widerrufen. Die bewaffneten Matrosen kamen in Petersburg an, bildeten Formationen und marschierten zum Hauptquartier der bolschewistischen Partei (...) Die Ankunft der Kronstädter Matrosen veränderte die Atmosphäre der Hauptstadt. Wiederum schien das Ende der Provisorischen Regierung gekommen zu sein. Lenin, der schnellstens nach Petrograd zurückgekehrt war, wurde schwankend, als er die Massen revolutionärer Matrosen vor dem Kschesinskaja-Palast sah. Er ging hinaus und sprach zu ihnen, legte sich aber nicht fest. Er rief sie nicht zur Revolte auf und befahl ihnen nicht ausdrücklich, mit ihrer Demonstration fort zu fahren. Stattdessen ließ er eine Tirade gegen die Provisorische Regierung und die Führer des Sowjets los und nannte sie 'Volks-Verräter'. Er forderte die Matrosen auf, die Revolution zu 'verteidigen' und im Übrigen den Bolschewiken weiter ergeben zu bleiben. In diesem Augenblick erblickte Lenin Lunatscharski, der in Kronstadt beliebt war, und bat ihn, einige Worte an die Matrosen zu richten. Lunatscharski, sich nach Lenin richtete, sprach in ungefähr demselben Sinne, stellte sich dann an die Spitze ihrer Reihen und marschierte mit ihnen zum Taurischen Palast.

 

Während die Matrosen, ungefähr 20.000 Mann, zum Hauptquartier der Sowjets marschierten, schlossen sich ihnen bewaffnete Arbeiter an. Der Aufstand, den das bolschewistische Zentralkomitee nicht offiziell zu billigen gewagt hatte, fing an, in Schwung zu kommen. In den Arbeitergegenden verbreitete sich die Nachricht, dass das rote Kronstadt in Scharen gekommen sei, um die Revolution zu „retten“; nur Greise, Frauen und Kinder wären auf der Insel-Festung zurückgeblieben.

 

Am Nachmittag des 4. Juli setzten Kämpfe in verschiedenen Teilen der Stadt ein; erst kam ein vereinzelter Schuss, dann das Knattern der Maschinengewehre. Auf den Straßen lagen Tote und Verwundete; Plünderungen begannen in großem Umfange. Lebensmittel-, Spirituosen- und Tabakläden wurden schnell bis aufs Letzte von Matrosen und Soldaten geleert. Einheiten der bolschewistischen Soldaten und Matrosen verhafteten gut gekleidete Bürger auf der Straße.

 

Tschernow wird Geisel

 

Ungefähr um 5 Uhr kamen die Matrosen endlich am Taurischen Palast an. In herausforderndem Ton verlangten sie die sozialistischen Minister der Provisorischen Regierung zu sehen. Viktor Tschernow, der sozialrevolutionäre Führer, war der erste, der erschien. Kaum hatte er sich gezeigt, so schrie der Pöbel: 'Durchsucht ihn! Sehrt nach, ob er Waffen hat!'

 

'In diesem Falle habe ich nichts weiter zu sagen', erwiderte Tschernow der Menge und wandte sich ab, um wieder in den Palast zurückzugehen. Daraufhin wurde es still, und Tschernow hielt eine kurze Ansprache, in der er versuchte, die Rebellen zu beruhigen. Als er fertig war, wurde er von ein paar kräftigen Matrosen gepackt, in ein Auto gezwungen und als Geisel in Haft genommen.

Diese Tat verwirrte die Menge. Eine Gruppe von Arbeitern stürzte in den Palast und warnte die Sowjetführer: 'Der Pöbel hat den Genossen Tschernow festgenommen! Sie werden ihn in Stücke reißen! Rettet ihn!'

Nun brach die Hölle los; der Präsident, der kaum Ordnung schaffen konnte, beauftragte schnell Kamenew, Martow und Trotzki, Tschernow vor dem Pöbel zu retten. Als Trotzki zu reden versuchte, beruhigte das Gesindel sich nicht. Ein Augenzeuge berichtet: 'Wenn in diesem Moment ein Provokationsschuss abgefeuert worden wäre, hätte es ein furchtbares Blutbad geben können; wir alle wären in Stücke gerissen worden, Trotzki nicht ausgenommen.'

 

Die bösartige Stimmung der Menge erschreckte selbst Trotzki. Nachdem er die Matrosen beglückwünscht hatte, weil sie der Revolution 'zu Hilfe' gekommen waren, schrie er trotz des Lärms: 'Ihr seid hierher gekommen, um euren Willen kundzutun und dem Sowjet zu zeigen, dass die Arbeiterklasse nicht länger die Bourgeoisie an der Macht haben will. Warum aber eure Sache beflecken durch kleine Akte der Willkür gegen zufällig anwesende Personen? Sie sind nicht würdig, dass ihr von ihnen Notiz nehmt. Jeder von euch ist bereit, seinen Kopf für die Revolution hinzuhalten. Ich weiß es. Gib mir deine Hand, Bruder, gib mir deine Hand, Genosse.'

 

Und er hielt einem der Kronstädter Kraftmenschen seine Hand hin. Doch dieser weigerte sich, Trotzkis Hand zu schütteln. Immerhin waren die Matrosen durch Trotzkis Rede etwas beruhigt und gaben Tschernow schließlich frei. Arm in Arm mit Trotzki kehrte er mit Trotzki in den Taurischen Palast zurück."

 

Ende des Juli-Aufstands – Verhaftungen

 

Kurz darauf stürmte eine dritte Welle nach dem Taurischen Palast, diesmal eine große Masse der riesenhaften Putilow-Werke. Einiger der Arbeiter, die in den Palast einbrachen, verlangte Zeretelli zu sehen. Ein mit einem Gewehr bewaffneter Arbeiter stieg auf die Tribüne und fing an zu schreien: 'Genossen! Wie lange sollen wir Arbeiter noch diesen Verrat dulden? Ihr seid hier versammelt und beratet und handelt mit den Grundbesitzern und der Bourgeoisie. Denkt daran, dass die Arbeiterklasse das nicht länger dulden will. Wir sind hier, 30.000 Mann. Wir werden euch unseren Willen aufzwingen. Wir wollen die Bourgeoisie nicht! Alle Macht den Sowjets! Die Gewehre liegen fest in unseren Händen. Eure Kerenskijs und Zeretellis können uns nichts vormachen!'

 

Tscheidse, der präsidierte, hörte dieser Rede ruhig zu und reicht ihm dann den Aufruf des Sowjets an die Arbeiter von Petrograd, in dem sie aufgefordert wurden, friedlich nach Hause zu gehen. Der Arbeiter las das Dokument, blieb betroffen einen Augenblick stehen, bis er von der Tribüne hinunter gestoßen wurde. Seine Kameraden verließen die Versammlung.

 

Der Juli-Aufstand war vorüber. Seinen Misserfolg verdankte er hauptsächlich dem Zögern der bolschewistischen Führer und der mangelhaften Zusammenarbeit zwischen den Kronstädter Matrosen, dem 176. Reserveregiment und den Putilow-Arbeitern. Ob die Bolschewiken den Anfangserfolg im Juli so weit hätten ausbeuten können, um die Macht in ganz Russland zu ergreifen, ist noch heute die Frage. Jedenfalls sollten sie während der kommenden Monate eine Macht gewinnen, die sie im Juli noch nicht hatten. Im Augenblick jedoch hatten sie eine böse Niederlage erlitten, und einer der wesentlichsten Gründe dafür war die Unterstützung der Regierung durch die Kosaken und andere lokale Truppen.

Am 6. Juli verfügte die Provisorische Regierung die Verhaftung von Lenin, Sinowjew, Kamenew, Lunatscharski, Raskolnikow und Madame Kollontai. Die Anklage lautete auf Anstiftung zu bewaffnetem Aufstand mit der finanziellen Unterstützung der deutschen Regierung. Das bolschewistische Hauptquartier im Kschesinskaja – Palast wurde von Regierungstruppen besetzt.

 

'Jetzt werden sie uns erschießen', sagte Lenin zu Trotzki. 'Dies ist der beste Augenblick dafür.'

'Glücklicherweise', bemerkte Trotzki, 'sind unsere Feinde nicht konsequent genug und werden nicht den Mut dazu haben.' (David Shub, 233 f.)

 

Was weiter geschieht, schildert Orlando Figes:

 

„Am Morgen des 5. Juli war die Hauptstadt von antibolschewistischer Hysterie gepackt. Die rechte Boulevardpresse schrie nach bolschewistischem Blut und gab den „deutschen Agenten“ sofort die Schuld an den Rückschlägen an der Front. Es schien selbstverständlich, dass die Bolschewiki ihren Aufstand so geplant hatten, dass er mit dem deutschen Vormarsch zusammenfiel. General Polowzow, der als Chef des Petrograder Militärbezirks für die Unterdrückungsmaßnahmen verantwortlich war, gab später zu, dass die Hetzjagd auf die Bolschewiki „eine stark antibolschewistische Tendenz“ hatte, doch in der Art, wie Russen seiner Klasse gewöhnlich Pogrome rechtfertigen, schob er die Schuld daran den „Juden selbst zu, weil sie nahezu 100 % der führenden Bolschewiki stellten. Es begann die Soldaten zu ärgern, mit ansehen zu müssen, dass Juden alles bestimmten, und die Bemerkungen, die ich in den Kasernen hörte, zeigten deutlich, was die Soldaten darüber dachten.“

 

Früh am Morgen des 6. Juli rückte ein massiver Kampfverband loyaler Truppen mit acht Panzerwagen und mehreren Batterien schwerer Artillerie aus, um die Kschessinskaja-Villa zu befreien. Inmitten der ganzen antibolschewistischen Hysterie hatte sich die rechte Presse bei dem Gedanken empört, dass ungewaschene bolschewistische Arbeiter und Soldaten im Boudoir der Kschessinskaja mit ihrer Samt- und Seidenausstattung herumwühlten. Bei der Rückeroberung der Villa der ehemaligen Ballerina wurde nicht ein einziger Schuss abgegeben. Die 500 Bolschewiki, die sich immer noch in der Villa aufhielten, ergaben sich widerstandslos, trotz des großen Waffenlagers, über das sie verfügten. Die führenden Bolschewiki waren zu sehr damit beschäftigt, Parteidokumente zu verbrennen, als dass sie hätten Widerstand organisieren können.

 

Später am selben Tag befahl Perewersew die Verhaftung Lenins und elf weiterer führender Bolschewiki. Ihnen allen wurde Hochverrat vorgeworfen. Die meisten von ihnen verbargen sich nicht und riskierten damit die Verhaftung, einige stellten sich sogar freiwillig. Nur Lenin war in den Untergrund geflohen – zuerst in eine Reihe sicherer Häuser in der Hauptstadt, um dann, am 9. Juli, mit Sinowjew über Land nach Finnland zu reisen. Lenin rasierte den Barrt ab und trug Arbeiterhemd- und Mütze, um sich zu maskieren. In den folgenden Tagen wurden bei der Suche nach ihm Dutzende von Häusern in der Hauptstadt von Truppen durchkämmt. Selbst Gorkis Wohnung wurde gestürmt. Etwa 800 Bolschewiki wurden verhaftet, einschließlich Kamenew, Lunatscharski, Kollontai und Trotzki – letzterer war noch nicht Mitglied der Partei, obwohl er ihr seine Loyalität erkärt hatte. Die Peter-Pauls-Festung, deren Zellen seit der Februarrevolution leer gestanden hatten, begann wieder sich mit „Politischen“ zu füllen.

 

Literatur

 

Deutscher, Isaac: Die unvollendete Revolution, Frankfurt am Main 1967

Figes, Orlando: Die Tragödie eines Volkes, London 1996, München 2001.

Shub, David: Lenin, Wiesbaden 1952.

 

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