Russland 1917

Die Februarrevolution 1917 und ihre Vorgeschichte

Sendemanuskript

 

Sie hören heute Teil 2 der Sendereihe

"1917 – das Jahr der russischen Revolution".

Heute blicken wir 100 Jahre zurück – auf die Ereignisse im Februar 1917, auf die Februarrevolution und ihre Vorgeschichte.

 

In der ersten Folge am 12. Januar warfen wir einen Blick auf die Lage in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts und das Revolutionsjahr 1905. Im Mittelpunkt der Sendung stand die Wiedergabe der Kantate "Die Mutter" von Hanns Eisler nach dem Schauspiel von Bertolt Brecht.

 

 

 

 

 

Postkarte, Das Denkmal Alexander III. während der Revolutionstage in Petrograd. Edition "Za svobodu" (Freiheit) Petrograd März, 1917; Staatsmuseum der Politischen Geschichte Russlands, Sankt Petersburg.

 

Acht Millionen tote russische Soldaten seit August 1914 – langes Anstehen für lebensmittel

 

Russland befand sich seit August 1914 im Krieg gegen Deutschland und Österreich-Ungarn. Bereits in den ersten 5 Kriegsmonaten starben eine Million und achthunderttausend russische Soldaten. Bis zum Februar kamen etwa 8 Millionen russischer Soldaten ums Leben.

In den drei Krieg führenden Ländern hatten die Kaiser und die militärische Führung die Hoffnung auf einen raschen siegreichen Krieg gesät. Daraus wurde bekanntlich nichts. Schon ab dem Herbst 1914 ging der Bewegungskrieg in einen Stellungskrieg über. Auf eine jahrelang dauernden Krieg waren beide Seiten schlecht vorbereitet, am schlechtesten aber das zaristische Russland, das von einem absolutistischen Alleinherrscher nach Gutsherrenart regiert wurde.

 

Orlando Figes, Professor für Geschichte am Birkbeck College in London, schreibt in seinem Buch "Die Tragödie eines Volkes - die Epochen der russischen Revolution 1917–1924":

 

„Seit dem Herbst 1915 erlebten die Städte des Nordens wachsende Nahrungsmittelknappheit. Vor den Bäckereien und Metzgereien standen lange Schlangen. Nach einer zehnstündigen Schicht in den Fabriken stellten Frauen Klappstühle und Bänke auf, um in einer Warteschlange für jämmerlich geringe Mengen Brot anzustehen. Im folgenden Herbst brachten sie bereits Betten mit, um vor den Lebensmittelgeschäften zu schlafen, denn viele kleine Geschäfte schlossen aus Mangel an Vorräten, und so hatten sie häufig keine Zeit, am selben Abend durch die Stadt zu laufen und wieder heim zu kehren. Am Vorabend der Ereignisse von 1917 verbrachte eine arbeitende Frau in Petrograd vermutlich im Durchschnitt vierzig Stunden in der Woche damit, für Lebensmittel anzustehen. Besonders die Schlangen für Brot wurden zu einer Art politischem Forum oder Klub, wo Gerüchte, Informationen und Ansichten ausgetauscht wurden. Just in diesen Warteschlangen begann sich die Straße für die kommende Revolution zu organisieren. Die Februarrevolution wurde in einer Brot-Warteschlange geboren. Sie begann, als eine Gruppe Textilarbeiterinnen auf der Wyborger Seite von Petrograd des Wartens müde wurde und wegging, um ihre Männer in den benachbarten Metallfabriken aufzufordern, sich einem Protestmarsch ins Zentrum der Stadt anzuschließen.“

 

Das war am 23. Februar 1917. Am 24. und 25. Februar nahmen die Proteste an Umfang und Entschlossenheit zu. Hunderttausende demonstrierten gegen die Herrschaft des Zaren, für, Brot, Frieden und Freiheit. Die Polizei verlor zunehmend die Kontrolle. Am Abend des 25. Februar befahl der Zar dem Oberbefehlshaber des Petrograder Militärdistrikts, "den Aufstand bis morgen zu unterdrücken".

 

Aufstand

 

Figes schreibt:

 

„Am Sonntagmorgen, dem 26. Februar, hatte sich das Zentrum von Petrograd in ein Feldlager verwandelt. Soldatenposten und bewaffnete Polizisten standen an den wichtigsten Kreuzungen und strategischen Gebäuden, Patrouillen ritten durch die Straßen, Offiziere hielten über Feldtelefon miteinander Kontakt, auf dem Schlossplatz aufgestellte Maschinengewehre waren auf den Newski-Prospekt gerichtet, und in den Seitenstraßen standen Ambulanzen bereit. Den Morgen über blieb alles ruhig: es war Sonntag, und die Leute schliefen aus. Gegen Mittag aber versammelten sich wieder riesige Arbeitermassen in den Vororten und marschierten Richtung Stadtzentrum. Als sie auf dem Newski-Prospekt zusammentrafen, feuerten Polizei und Soldaten von verschiedenen Standorten aus in die Menge. An der Kreuzung Newski- und Wladimir-Prospekt wurden mehrere Demonstranten vom Semjonowski -Regiment erschossen – demselben, das 1905 den Moskauer Aufstand niedergeschlagen hatte. Auf dem Newski, in der Nähe des Gostiny Dwor, schoss eine Ausbildungsabteilung des Pawlowski-Regiments einige Salven in die Luft und eröffnete dann das Feuer auf die Menge. Die Leute stoben auseinander, suchten hinter Gebäuden und Geschäften Deckung, um gleich wieder darauf aufzutauchen und Steine und Eisbrocken gegen die Truppen zu schleudern. Dutzende von Menschen wurden verwundet oder getötet. Der blutigste Zwischenfall ereignete sich auf dem Snamenskaja – Paltz, wo mehr als 50 Personen von einer Ausbildungsabteilung des Wolynski – Regiments erschossen wurden. Es war ein schreckliches Blutbad. Ein Offizier, der seine jungen und offensichtlich nervösen Soldaten nicht dazu bringen konnte, auf die Demonstranten zu schießen, ergriff das Gewehr eines seiner Männer und begann wild in die Menge zu feuern. Unter den Toten, die später um das Reiterstandbild Alexander III. aufgehäuft wurden, befanden sich zwei Soldaten dieses Regiments, die sich auf die Seite des Volke geschlagen hatten.

 

Dieses Blutvergießen – Russlands zweiter Blutsonntag – war ein kritischer Wendepunkt. Von diesem Augenblick an wussten die Demonstranten, dass sie sich in einem Kampf auf Leben und Tod mit dem Regime befanden. Doch nun, da das Schlimmste passiert war und einige ihrer Kameraden getötete worden waren, fürchteten sie paradoxerweise weniger um ihr eigenes Leben. Was die Soldaten betrifft, so standen sie jetzt vor der Wahl zwischen ihrer moralischen Pflicht gegenüber dem Volk und ihrem Treueeid gegenüber dem Zaren. Folgten sie ersterer, so würde es eine regelrechte Revolution geben. Hielten sie sich aber an ihren Treueeid, dann gelang es dem Regime möglicherweise dioch zu überleben, wie schon 1905/06." (S. 338 f.)

 

Aber der Zar und sein Regime hatten nach 2 1/2 Jahren Krieg das Vertrauen der Soldaten verspielt. Nach dem Morden an den Kriegsfronten waren viele junge Männer in Uniform nicht mehr bereit, die Gewehre auf ihre Landsleute auf den Straßen Petrograds anzulegen. In mehreren Regimentern verweigerten die Soldaten den Schießbefehl und erhoben sich gegen ihre Vorgesetzten. Am 27. und 28. Februar war ganz Petrograd auf den Straßen. Das Blatt wendete sich in diesen Tagen endgültig zugunsten der Volksmassen. Am 3. März dankte der Zar ab.

 

25.000 Menschen versammelten sich am 27. Februar vor dem Taurischen Palais in Petrograd, dem Sitz der Duma, des russischen Parlaments. Auf Druck der demokratischen Bewegung hatte der Zar die Duma erstmals 1906 einberufen, sie jedoch nach wenigen Wochen wieder aufgelöst, weil er mit ihren Beschlüssen nicht einverstanden war. Dieses Spielchen hatte sich bis 1915 noch drei Male wiederholt. Auch die vierte Duma 1915 tagte nur 5 Wochen, bis der Zar die Abgeordneten nach Hause schickte.

 

Bildung des Rats der Petrograder Arbeiter und Soldaten und der Provisorischen Regierung

 

An diesem historisch bedeutsamen Ort hatten sich die Deputierten (wir würden heute sagen Delegierten) der Arbeiter aus den Fabriken und der Soldaten aus den Regimentern Petrograds versammelt. Es waren zunächst nur 50. Am 28.02. kamen nach Abschluss der Wahlen ca. 3000 Deputierte im großen Saal des Palastes zusammen. Damit war der erste Sowjet der Geschichte zusammengetreten - der Rat der Petrograder Arbeiter und Soldaten. Sie waren die direkt gewählten Vertreter der Volksmassen, die den Zaren und sein Regime gestürzt hatten. Zur Führung der Geschäfte wählten sie aus ihrer Mitte ein Exekutivkomitee.

 

Am 1. März verlangten 6 Mitglieder des Exekutivkomitees die Bildung einer provisorischen Revolutionsregierung, bestehend aus Mitgliedern des Arbeiter- und Soldatenrats. Aber sie konnten sich nicht durchsetzen. Die Mehrheit der Komiteemitglieder, und auch die Mehrheit der Deputierten, fühlten sich überfordert, die Regierungsgeschäfte zu übernehmen.

 

Das sollte sich jedoch im Laufe des Jahres ändern!

 

Im anderen Flügel des Taurischen Palais hatten sich gleichzeitig die Parlamentarier der letzten Duma des Jahres 1915 versammelt. Nach zaristischem Wahlrecht waren hier Adel und bürgerliche Oberschicht tonangebend. Ihre Schulbildung, ggf. ihr akademisches Studium, ihre auf Reisen erworbene Weltläufigkeit, die Verwaltung ihres Eigentums, die Mitwirkung in den Körperschaften auf Kreis- und Provinzebene, die Übernehme von Funktionen in berufsständischen Organisationen und nicht zuletzt ihre parlamentarische Tätigkeit gaben ihnen das Selbstbewusstsein und stärkten ihren Anspruch, jetzt die politischen Geschicke Russlands in die Hand zu nehmen und die Regierung zu bilden. Sie einigten sich mit dem Arbeiter- und Soldatenrat am 2. März. Noch am gleichen Tag bildeten die Duma-Abgeordneten eine provisorische Regierung der Fürst Lwow als Premier- und Innenminister vorstand.

 

Figes schreibt:

 

„Die Verhandlungen wurden in den frühen Morgenstunden abgeschlossen. Der Arbeiter- und Soldatenrat wollte es den ´großbürgerlichen Element´ überlassen, eine Regierung zu bilden, wie es bei Suchanow heißt, 'weil er der Ansicht sei, dass es der augenblicklichen allgemeinen Konjunktur und den Interessen der Revolution entspräche.' Doch als 'das einzige Organ, das in der Hauptstadt über reale Macht verfügte', stellte er als Vorbedingung für seine Unterstützung die folgenden Regierungsprinzipien auf:

 

1. Sofortige Amnestie aller politischen Gefangenen;

2. Sofortige Garantie der Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit;

3. Sofortige Aufhebung aller Diskriminierungen von Angehörigen anderer Klassen, Religionen und Nationalitäten;

4. Sofortige Maßnahmen zur Einberufung einer Konstituierenden Versammlung, um die Regierungsform und die Verfassung des Landes festzulegen;

5. Ersetzung der Polizei durch eine Volksmiliz mit gewählter Leitung, die den Organen der lokalen Selbstverwaltung verantwortlich ist;

6. Wahlen zu diesen Organen auf der Grundlage des allgemeinen, direkten, geheimen und gleichen Wahlrechts;

7. Die Garantie, dass die Militäreinheiten, die sich an der Revolution beteiligt haben, weder entwaffnet noch an die Front geschickt werden;

8. Anerkennung der vollen Bürgerrechte für nicht im Dienst befindliche Soldaten."

(S. 361)

 

300 Jahre Romanow-Dynastie: Herrscher von "Gottes Gnaden"

 

Was im Februar 117 in Petrograd geschah, entwickelte sich in Jahrzehnten und kündigte sich seit Jahren an.

 

Niemals hatten die Zaren der Romanow Dynastie während ihrer 300 Jahre währenden Herrschaft auch nur einen Zipfel ihrer Macht geteilt oder gar Widerspruch geduldet. Sie verstanden sich als Herrscher von Gottes Gnaden. Bürger- und Menschenrechte, Verfassung, allgemeines Wahlrecht und ein seinen Wählern verpflichtetes Parlament waren für sie Fremdworte. Auf diese Weise war Ihnen die Russische Gesellschaft selbst fremd geworden.

 

Das zeigte sich besonders krass in den Jahren 1891 und 1892, als Missernten zu einer katastrophalen Hungersnot führten, die in dem Gebiet zwischen südlichem Ural und Schwarzem Meer Millionen von Todesopfern forderte. Der Zar und seine Regierung, Adel und Beamtenapparat versagten auf der ganzen Linie und waren eher Teil als Lösung des Problems. Hilfe kam von unten: aus der lokalen Selbstverwaltung, dem Semstwo, und von Seiten engagierter Menschen und ihrer Hilfsorganisationen. Im Kampf gegen die Hungersnot bildete sich bei diesen Akteuren ein neues Selbstbewusstsein heraus, nach dem Motto. "wenn es darauf ankommt, brauchen wir weder einen Zaren noch seine Beamten, sondern helfen uns selbst." Der Zar dankte auf seine Weise: die Selbstverwaltung und die Hilfsorganisationen wurden finanziell ausgetrocknet und schikaniert, ihre führenden Kräfte verhaftet.

 

1914 reichte Russland von der Ostsee bis zum Pazifik. Im damals größten Land der Erde wohnten ca. 178 Mio. Menschen. Schier endlose natürliche Ressourcen verhießen einen steilen industriellen Aufstieg und ein besseres Leben für die Russen und ihre Nachbarvölker im Zarenreich.

Aber dem Zaren und seinem Regime war Russland noch nicht groß genug: auch die Mandschurei und Korea sollten russisch werden. Jedoch hatten der Zar und seine Berater Japan, die aufstrebende Regionalmacht in Ostasien, unterschätzt.

Russland handelte sich eine demütigende militärische Niederlage ein. Die Zeche für dieses Abenteuer zahlte das Volk - mit Tausenden Leben von Soldaten und mit materieller Not. Hunger und mörderische Arbeitsbedingungen, Elend und Ausweglosigkeit trieben die Menschen auf die Straße. Als die zaristische Garde am 9. Januar 1905 auf Demonstranten in St. Petersburg schoss und ein Blutbad mit fast 1000 Todesopfern anrichtete, brach im ganzen Land eine monatelange Revolte aus, die erst im Herbst 1905 nach Zugeständnissen des Zaren abflaute.

 

In den folgenden Jahren aber nahm der Zar alle Zugeständnisse zurück und rächte sich grausam. Russland verwandelt sich an 1906 in ein gigantisches Zuchthaus, in ein "Völkergefängnis", wie es Lenin ausdrückte, mit allgegenwärtiger Geheimpolizei, schrankenloser Ausbeutung in den Fabriken und Adelsgütern und vollkommener Rechtlosigkeit der Untertanen – bis das Maß im Februar 1917 voll war.

 

Liebe Hörerinnen und Hörer, die Sendung des Rosa-Luxemburg-Clubs auf Radio Rheinwelle geht zu Ende. Am Mikrofon waren Michael Forßbohm und Eckhart Dittrich. Wir danken Ihnen fürs Zuhören! Wir melden uns wieder in 4 Wochen um 18 Uhr auf dieser Welle.

 

Literatur:

 

Figes, Orlando: Die Tragödie eines Volkes, London 1996, München 2001, S. 490 ff.

 

© Brigitte Forßbohm, Michael Forßbohm, Herderstr. 31, 65185 Wiesbaden, Tel (06 11) 30 94 33, info@brigitteforssbohm.de