Doppelherrschaft – Räte und Provisorische Regierung

Sendemanuskript

1917 – das Jahr der russischen Revolution

 

2017 blicken wir 100 Jahre zurück auf die Revolution in Russland, den Sturz der Zarenherrschaft im Februar und der Errichtung der „Diktatur des Proletariats“ unter Vorherrschaft der Bolschewiki im Oktober. Wladimir Iljitsch Lenin war der Ideengeber; in den Aprilthesen schrieb er, die „Arbeiterdeputiertenräte“ seien „die einzig mögliche Form der Revolutionsregierung“. Dies stieß im April nur bei wenigen der politischen Akteur*innen auf Verständnis. Im Juli ergriff die Parole „Alle Macht den Räten!“ die Massen, im „roten Oktober“ wurde sie in die Tat umgesetzt. Es scheint, als sei Karl Marx’ Satz, „... die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift“, im historischen Geschehen angekommen.

Die „Diktatur des Proletariats“, in Lenins Schrift „Staat und Revolution“ als Staatsform entwickelt, wurde Wirklichkeit. Mit der Auflösung der Konstituierenden Versammlung schafften die Bolschewiki das parlamentarische System in Russland bis auf weiteres ab.

Wir fragen nach den Gewinnern und Verlierern, nach den historischen Chancen und Geburtsfehlern des Sowjetsystems im „roten Oktober“.

 

Do, 01.06.2017

Heute geht es um die Doppelherrschaft – Räte und Provisorische Regierung, die Entwicklung der zivilen und militärischen Machtzentren in Russland im Sommer 1917

Petrograder Arbeiter- und Soldatenrat – das wahre Machtzentrum der Revolution

 

Der Petrograder Arbeiter- und Soldatenrat hatte sich bisher nicht an der Provisorischen Regierung beteiligt. Er war jedoch ein eigenes Machtzentrum, ja „das einzige Organ, das zur Zeit in der Hauptstadt über reale Macht verfügte.“ (O. Figes) Er machte die Unterstützung der Provisorischen Regierung abhängig von der Beachtung der am 1. März beschlossenen Richtlinien für die Arbeit der Regierung. Dazu gehörten:

 

1. Sofortige Amnestie aller politischen Gefangenen;

2. Sofortige Garantie der Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit;

3. Sofortige Aufhebung aller Diskriminierungen von Angehörigen anderer Klassen, Religionen und Nationalitäten;

4. Sofortige Maßnahmen zur Einberufung einer Konstituierenden Versammlung, um die Regierungsform und die Verfassung des Landes festzulegen;

5. Ersetzung der Polizei durch eine Volksmiliz mit gewählter Leitung, die den Organen der lokalen Selbstverwaltung verantwortlich ist;

6. Wahlen zu diesen Organen auf der Grundlage des allgemeinen, direkten, geheimen und gleichen Wahlrechts;

7. Die Garantie, dass die Militäreinheiten, die sich an der Revolution beteiligt haben, weder entwaffnet noch an die Front geschickt werden;

8. Anerkennung der vollen Bürgerrechte für nicht im Dienst befindliche Soldaten.

 

Weder die drängende Frage der Verteilung des Landes an die Bauern noch die nach der Beendigung des Krieges waren hier angesprochen. Es waren jedoch gerade diese Themen, bei denen die Provisorische Regierung und der Petrograder Arbeiter- und Soldatenrat entgegengesetzte Ziele verfolgten.

 

Revolutionäre werden „Staatsmänner“ – Sozialisten beteiligen sich an der Provisorischen Regierung

 

Die Aprilkrise war durch Außenminister Miljukow, der in einer Note an die Westmächte, die Fortsetzung des Krieges an deren Seite in Aussicht gestellt hatte, ausgelöst worden. Nach dem Rücktritt des bisherigen Kriegsministers, dem Oktobristen Alexander Gutschkow, und Miljukow traten auf Betreiben des Ministerpräsidenten Fürst Lwow sechs sozialistische Minister, die auch dem Arbeiter- und Soldatenrat angehörten – als Privatpersonen – in die Provisorische Regierung ein. Alexander Kerenski, vorher Justizminister und als einziges Mitglied der Provisorischen Regierung auch Mitglied im Arbeiter- und Soldatenrat, wurde nun Kriegsminister. Der Sozialrevolutionär Wiktor Tschernow wurde Minister für Landwirtschaft, die Menschewiki Matwei Skobelew und Irakli Tsereteli übernahmen die Ressorts Arbeit und Post- und Fernmeldewesen. Tsereteli wurde zu einer zentralen Figur der Koalition. Lwow nahm ihn in sein inneres Kabinett auf, das über die allgemeine Strategie entschied. Die neuen Minister begaben sich damit in eine schwierige Situation. Sie waren nun „Staatsmänner“ und weniger „Revolutionäre“. Sie verpflichteten sich „im Interesse des Staats sich dem zu widersetzen, was sie als allgemeine Anarchie bezeichneten – den Landnahmen der Bauern, den Arbeiterstreiks und den Zusammenbruch der Disziplin in der Armee.“ (O. Figes)

 

Die Aprilkrise hatte die Wir-gegen-sie-Einstellung der radikalen Arbeiter und Soldaten gegenüber der bürgerlichen Regierung verstärkt und Lenins Auffassung, dass ein Frieden nicht durch imperialistische Kriegsziele zu erreichen sei, bestätigt. Lenin und die Bolschewiki waren für die Übernahme der Regierungsmacht durch die Räte, nahmen selbst aber eine eher abwartende Stellung ein, da sie eine Niederlage nicht riskieren wollten.

Orlando Figes schätzt im Nachhinein ein:

„Wenn sie aber nicht Schritt hielten mit ihrer revolutionären Avantgarde – den Kronstädter Matrosen, den Wyborger Arbeitern und der Petrograder Garnison–, liefen sie in Gefahr, ihre wirkungsvollste Streitkraft zu verlieren ... Die Geschichte der bolschewistischen Partei und ihrer fraktionellen Streitigkeiten im Jahr 1917 drehte sich um das Problem, wie die Energien dieser revolutionären Avantgarden in Einklang mit den übrigen Massen gehalten werden konnten.“

 

Wer waren die „revolutionären Avantgarden“?

 

1. Die Kronstädter Matrosen

Die Kronstädter Marinebasis lag auf einer Insel im Finnischen Meerbusen, unmittelbar vor Petrograd. Eingesperrt an Bord ihrer Schiffe waren die jungen Matrosen der Brutalität und dem Sadismus ihrer Offiziere ausgeliefert gewesen. Die meist sehr jungen Rekruten meuterten in den Februartagen. Sie erstachen den Kommandanten der Basis Admiral Wiren, ermordeten Dutzende von Offizieren, lynchten sie oder sperrten sie ein. „Die alte Marinehierarchie wurde vollständig beseitigt, und die eigentliche Macht ging an den Kronstädter Soldatenrat über.“ (O. Figes) Die Provisorische Regierung hatte hier keine Autorität, weder was die gerichtliche Zuständigkeit für die gefangenen Offiziere, noch was die militärische Befehlsgewalt betraf. Die Bolschewiki konnten bis Anfang Mai 3000 Mitglieder in der Marinebasis rekrutieren und kontrollierten zusammen mit den Anarchisten den Kronstädter Soldatenrat, der sich am 16. Mai zu einer souveränen Macht erklärte und die Autorität der Provisorischen Regierung und des von ihr ernannten Kommissars der Marinebasis ablehnte. Selbst der Petrograder Arbeiter- und Soldatenrat verurteilte die Kronstädter Rebellen als „Abtrünnige von der revolutionären Demokratie“. Sie fanden auch keine Unterstützung bei den bolschewistischen Führern der Hauptstadt. Lenin warf ihnen vor, die Parteidisziplin zu verletzen. In der verfahrenen Situation schickte die Provisorische Regierung Tsereteli zur Verhandlung. Er erreichte schließlich eine Übereinkunft, nach der die Kronstädter sich bereit erklärten, die Autorität der Provisorischen Regierung anzuerkennen, wenn diese den von ihnen gewählten Kommissar akzeptierte.

 

2. Arbeiterschaft des Wyborg-Bezirks

Die Avantgarde revolutionären Arbeiterschaft lag im Wyborg-Bezirk in Petrograd, dem Standort vieler und kriegswichtiger Metallfabriken wie Renault Russland, Nobel, Vulkan, Phoenix und andere. Hier arbeiteten einerseits junge, gut ausgebildete Metallarbeiter und zugewanderte Hilfsarbeiter, die unter dem doppelten Druck niedriger Löhne und hoher Mieten zu leiden hatten. Die Wyborger Parteiorganisation der Bolschewiki hatte Anfang Mai 5000 zu Militanz neigende Mitglieder.

 

3. Das 1. Maschinengewehrregiment

Militärisch von großer Bedeutung war das 1. Maschinengewehrregiment, das die Wyborger Seite als Basis gewählt hatte. Es handelte sich um die am besten ausgebildete Truppe der russischen Armee von etwa 10000 Mann mit 1000 Maschinengewehren, die in den Februartagen von Oranienbaum nach Petrograd marschiert war, um an der Meuterei teilzunehmen. Sie betrachteten sich als Helden der Revolution und weigerten sich, in ihre Kasernen zurückzukehren, solange „die Bourgeoisie an der Macht“ sei. Das heißt, sie bewachten im Grunde die Provisorische Regierung.

 

4. Petrograder Garnison

Dies betraf auch die Petrograder Garnison. Sie hatte schon in den Februartagen bewiesen, dass sie auf Seiten der Arbeiter des Wyborg-Bezirks stand. Sie bestand hauptsächlich aus älteren Reservisten, meist Familienvätern und evakuierten Verwundeten aus der Front, von denen keine Kriegsbegeisterung mehr zu erwarten war. An die Petrograder Garnison richtete sich der Befehl Nr. 1 vom 1./14. März des Arbeiter- und Soldatenrats nach der Februarrevolution 1917. Er war auf Druck der Soldaten zustande gekommen, die befürchteten, dass sie nach der Meuterei bestraft würden, wenn sie in ihre Kasernen zurückkehrten. Deshalb forderten Garantien für ihre Straffreiheit.

 

Bürgerrechte für Soldaten – Befehl Nr. 1 des Petrograder Arbeiter- und Soldatenrats

 

Der Befehl Nr. 1, ausgearbeitet von einer Kommission unter dem Vorsitz von N. D. Solkolow, legalisierte die in der russischen Armee spontan entstandenen Soldatenkomitees und unterstellte die Truppenteile in allen politischen Handlungen dem Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten und den gewählten Soldatenkomitees. Befehle der Kriegskommission der Staatsduma, später der Provisorischen Regierung, sollten nur dann ausgeführt werden, wenn sie den Befehlen und Beschlüssen des Petrograder Arbeiter- und Soldatenrats nicht widersprachen. Die Waffen standen fortan unter Kontrolle der Kompanie- und Bataillonskomitees.

Der Befehl Nr. 1 stattete die Soldaten mit den Bürgerrechten aus, stellte ihre Gleichberechtigung zu den Offizieren außerhalb des Dienstes und der Rangordnung her, verbot grobe Reden gegenüber den Soldaten und schaffte Titulierungen (z.B. die Anrede „Hochwohlgeboren“) ab.

Die Wirksamkeit des Befehls Nr. 1 ging weit über die Grenzen der hauptstädtischen Garnison hinaus. Er begünstigte die „Demokratisierung“ der Armee und die Organisation der Masse der Soldaten zu einer aktiven Kraft im Sinne der Räte. Eine Hauptforderung der Soldaten, die Wählbarkeit der Offiziere, erfüllte er zwar nicht, dennoch nahmen sich die Soldaten vieler Truppenteile das Recht, Offiziere abzusetzen und eigene Leute in die die Kommandostellen zu wählen.

Von dieser Avantgarde ging Druck auf die Räte aus, die gesamte Macht im Staat zu übernehmen.

 

Kraftproben

 

Orlando Figes spricht von einer allgemeinen Autoritätskrise nach der Revolution:

"Nicht nur der Staat, sondern sämtliche Autoritätspersonen wie Richter, Polizisten, Beamte, Armee- und Marineoffiziere, Priester, Lehrer, Unternehmer, Vorarbeiter, Gutsbesitzer, Dorfälteste, patriarchalische Väter und Ehemänner wurden abgelehnt.“

 

Über wirkliche Autorität verfügte nur der Arbeiter- und Soldatenrat. Er hätte nach der Aprilkrise die Macht übernehmen können, zumal die Truppen, die Eisenbahnen und der Post- und Telegrafendienst nur seinen Anweisungen folgten.

 

"Die Bolschewiki des linken Flügels, die sich durch diese militanten Gruppen in ihrer Kampfbereitschaft bestärkt sahen, brachten den Plan vor, am 10. Juni einen bewaffneten Aufmarsch als Demonstration der Stärke gegen die Provisorische Regierung zu veranstalten. Die Idee stammte von der Militärorganisation, die die Bolschewiki in der Petrograder Division eingerichtet hatten und die versprach, 60.000 Man an Truppen zu stellen. Schon bald erhielten sie Unterstützung von den Kronstädter Matrosen, die am 4. Juni als Generalprobe eine Parade in militärischer Ordnung zur Ehrung der gefallenen Heldender Februartage durchführten. Auch das Petrograder bolschewistische Komitee signalisierte Zustimmung ... Zu der Zeit hatte sich eine Mehrheit im Zentralkomitee entschlossen, den Plan einer bewaffneten Demonstration zu unterstützen. Am 8. Juni waren 28 Fabriken in der Hauptstadt in den Streik getreten, um gegen den Versuch der Regierung zu protestieren, die Anarchisten aus ihrem Hauptquartier in der Villa des ehemaligen zaristischen Ministers Durnowo auf der Wyborger Seite zu vertreiben. Fünfzig bewaffnete Kronstädter Matrosen eilten den Anarchisten gegen die Regierungstruppen zu Hilfe. Die Hauptstadt befand sich am Rande einer blutigen Konfrontation, und der Augenblick für eine organisierte Machtdemonstration schien gekommen."

 

Die bolschewistische Führung sah in dem Unternehmen eher einen Testversuch der Stärke und ein Mittel, den Rätekongress selbst zur Übernahme der Macht zu drängen. Der Petrograder Rat verbot jedoch die Demonstration am 9. Juni. Die militanteren Bolschewisten protestierten, doch Lenin beharrte auf dem Standpunkt, es sei verfrüht , gegen den Petrograder Rat zu agieren, denn der musste ja als Legitimation für weitergehende Aktionen bis hin zur Absetzung der Provisorischen Regierung dienen. Wären die Bolschewiki aus dem Petrograder Rat ausgeschlossen worden, hätten sie logischerweise die Massenagitation für die Übernahme der Macht durch die Räte nicht mehr führen können.

 

„Alle Macht den Räten!“?

 

Schließlich fand am 18. Juni eine vom Arbeiter- und Soldatenrat genehmigte und geförderte Demonstration mit der Losung für die „revolutionäre Einheit“ statt.

 

„Die Bolschewiki beschlossen, sich mit Spruchbändern mit der Losung Alle Macht den Räten! an dem Marsch zu beteiligen, die dann auch von den meisten der 400.000 Demonstranten skandiert wurde. Vielleicht waren die Anhänger der Räteführer bewusst ferngeblieben, wie einige Pressestimmen später vermuteten. Oder, was wahrscheinlicher ist, die Demonstranten verstanden nicht die ideologischen Differenzen zwischen den Bolschewiki und den Räteführern und marschierten unter den Losungen der ersteren in der falschen Annahme, dies sei ein Zeichen ihrer Loyalität für letztere. Auf alle Fälle war es ein bedeutender propagandistischer Sieg für die Bolschewiki, der sie maßgeblich zu ihren Plänen für eine weitere, sehr viel folgenreichere bewaffnete Konfrontation mit der Provisorischen Regierung im Juli ermutigte.“ (O. Figes)

 

Die Provisorische Regierung befand sich also in einer sehr schwierigen Lage. Sie war vielfältigen Angriffen ausgesetzt und verfügte über keine wirkliche Macht, schon gar nicht in militärischer Hinsicht. Im Gegenteil, sie war bedroht von den militärischen Einheiten in und um Petrograd. Dies hatte sie vorübergehend sogar zu der Überlegung veranlasst, die Regierung nach Moskau zu verlegen.

Sie besaß auch keine wirkliche demokratische Legitimation, denn sie war nicht durch Wahlen zustande gekommen, sondern verstand sich als eine Regierung des nationalen Vertrauens, als zeitweilige Hüterin des Staates bis zur Wahl einer Konstituierenden Versammlung. Das Wort provisorisch brachte ihr obendrein in der Bevölkerung keinen Respekt.

In dieser Situation, in der die russischen Streitkräfte obendrein sich als die freisten der Welt fühlen durften, bereitete Kerenski zusammen mit dem von ihm ernannten Oberbefehlshaber der russischen Armee, Brussilow, die so genannte Sommeroffensive der russischen Armee vor. Ein Ziel der Militäraktion dürfte es gewesen sein, das 1. Maschinengewehrregiment und die Petrograder Garnison in deren Gewalt die Provisorische Regierung sich faktisch befand, durch Verlegung an die Front loszuwerden.

 

Brussilow, ehemaliger zaristischer General, akzeptierte die Ergebnisse der Februarrevolution. Zusammen mit Kerenski hoffte er auf einen bürgerlichen Patriotismus zur Verteidigung der Freiheit in der Armee, der es möglich machen würde, den Krieg fortzusetzen. Brussilow glaubte an die Zusammenarbeit mit den demokratischen Organen der Soldaten und meinte die Wiederherstellung der Kampfmoral für eine neue Offensive könne nur in Partnerschaft gelingen. Diese Hoffnung mochte sich auf die Erinnerung an die französischen Revolutionsarmee stützen, die mit einem neuen Patriotismus der Soldaten von Sieg zu Sieg gezogen war. Doch hier lagen die Dinge anders.

 

Der Pazifismus der Soldaten

 

Orlando Figes schildert die Stimmung der in der Armee:

"Die Soldatenkomitees ... diskutierten die bevorstehende Offensive und beschlossen, nicht zu kämpfen. Wozu sollen wir denn in Galizien einmarschieren?, fragte ein Soldat. Warum zum Teufel müssen wir noch einen Berggipfel erobern, fuhr ein anderer fort, wenn wir an seinem Fuße Frieden machen können?

Viele Soldaten waren überzeugt, Dass der Friedensplan des Arbeiter- und Soldatenrats weiteres Blutvergießen sinnlos machte, und konnten nicht verstehen, warum ihre Offiziere ihnen zu kämpfen befahlen, wo doch die Führer des Petrograder Rats sich über die Notwendigkeit des Friedens geeinigt hatten. ...

Je näher die Offensive kam, desto stärker schwoll die Flut der Deserteure an. Die Züge von der Front wurden von Soldaten auf ihrem Weg nach Hause ständig gestürmt. Sie reisten auf den Waggondächern und hängten sich an die Puffer. Die Zahl der Deserteure während der Offensive war in Wirklichkeit viel höher als die offiziell angegebenen 170.000. Ganze Einheiten von Deserteuren übernahmen Gebiete im Hinterland und lebten dort als Banditen.“

 

Eines der aus Sicht Brussilows beunruhigendsten Symptome des Pazifismus der Soldaten war ihr Fraternisieren mit den feindlichen Truppen.

„Es war Teil der deutschen Kampagne, die Ostfront abzubauen, um Truppen in den Westen verlegen zu können. Sie lockten die russischen Soldaten mit Wodka, Konzerten und improvisierten Bordellen, die sie zwischen den beiden Linien einrichteten, aus ihren Schützengräben und sagten ihnen, – in Formulierungen, die der bolschewistischen Propaganda bemerkenswert ähnelten –, sie sollten kein weiteres Blut mehr vergießen, denn damit würden sie nur die imperialistischen Interessen Großbritanniens und Frankreichs vorantreiben. Während der österlichen Kampfpause verließen Tausende Russen ihre Schützengräben und überschritten mit weißen Fahnen die feindlichen Linien, viele schwammen sogar durch den Dnjestr und die Düna, um sich an dem Vergnügen zu beteiligen. Deutsche Kundschafter wurden hinter den russischen Linien wie Helden empfangen. Einen riesigen Propagandasieg errang zum Beispiel Leutnant Bauermeister im 33. Armeekorps südlich von Galitsch, genau dort also, wo laut Plan der entscheidende Schlag der Russen in der Junioffensive stattfinden sollte. Während die machtlosen Offiziere vor Wut schäumten, erzählte er den Soldaten, dass Deutschland nicht länger kämpfen wolle und dass man die ganze Schuld an der kommenden Offensive der Provisorischen Regierung anlasten müsse, die ein Mietling der alliierten Bankiers sei. Wenn das der Fall ist, was sie sagen, antworteten die Delegierten der Soldaten, werden wir die Regierung stürzen! Wir werden eine Regierung ans Ruder bringen, die dem russischen Volk baldigst den versprochenen Frieden bringt.

Die Soldaten waren sogar einverstanden, ein Waffenstillstandsabkommen für ihren ganzen Frontabschnitt zu unterzeichnen. Bauermeister war überrascht. Er erinnerte die Russen daran, dass sie dazu nicht autorisiert seien. Doch die Soldaten meinten, wenn sie den Beschluss fassten, nicht weiterzukämpfen, dann habe niemand die Macht, sie zum Kampf zu zwingen. Einige Wochen lang, bis unmittelbar vor der Offensive, blieb der Waffenstillstand in Kraft. Die Geschütze wurden außer Betrieb gestellt und über den russischen Linien weiße Fahnen gehisst. Der pompöse Bauermeister mit seiner weißen Mütze wurde so etwas wie ein Held, und es gelang ihm sogar, in einem Dorf fünf Kilometer hinter der russischen Front zu sprechen: Es war das Hauptquartier der 7. Armee.“

 

Die „Sommeroffensive“ endet im Chaos

 

Unter diesen Bedingungen riet Brussilow zum Abbruch der Offensive. Kerenski und das Kabinett ignorierten jedoch die Warnungen des Oberbefehlshabers. Die Offensive begann am 16. Juni mit zweitägigem schweren Artilleriefeuer. Nach anfänglichem Erfolg, man schaffte es, die Front um 3 Kilometer nach vorne zu verlegen, hatten die Soldaten genug, der Vormarsch brach zusammen, weil die Soldaten wegzulaufen begannen.

 

„Der Rückzug artete in Chaos aus: die Soldaten plünderten Geschäfte und Lagerhäuser, vergewaltigten Bauernmädchen und ermordeten Juden. Der entscheidende Vormarsch auf Lemberg brach bald zusammen, als die Truppen in der verlassenen Stadt Konjuchy ein großes Alkoholdepot entdeckten und dort haltmachten, um sich zu betrinken. Als sie schließlich nach drei Tagen und einem Kater wieder in der Lage waren zu kämpfen, war inzwischen feindliche Verstärkung angekommen, so dass die Russen schwere Verluste erlitten und sich zurückziehen mussten.“ (O. Figes)

 

Das 1. Maschinengewehrregiment in Petrograd erhielt am 20. Juni den Befehl, 500 Maschinengewehre samt Mannschaft an die Front zu schicken. Damit überging man die Bedingungen des Petrograder Arbeiter- und Soldatenrats. Die Bolschewiki und die Anarchisten argumentierten, die Regierung nutze nur die Offensive, um die Garnison letztendlich aufzulösen. In der Folge beschlossen die Maschinengewehrschützen am 21. Juni, die Provisorische Regierung zu stürzen, falls sie weiter auf dem Ansinnen beharre, sie an die Front zu schicken. Diesem Beispiel folgten andere Einheiten. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich die bolschewistische Militärorganisation zu einem Operationsstab zur Eroberung der Hauptstadt. Lenin und die bolschewistische Führung rieten jedoch von einem bewaffneten Aufstand ab, da sie fürchteten, eine vorzeitige Machtergreifung führe zu einem Bürgerkrieg und das rote Petrograd laufe in Gefahr, von der Provinz besiegt zu werden. Doch die Situation geriet mehr und mehr außer Kontrolle.

 

Orlando Figes resümiert:

„Der Zusammenbruch der Offensive versetzte der Provisorischen Regierung und der persönlichen Autorität ihrer Führer einen verhängnisvollen Schlag. Hunderttausende Soldaten waren gefallen, Millionen Quadratkilometer Terrain verloren. Die Führer der Regierung hatten alles auf die Offensive gesetzt in der Hoffnung, damit das Land in der nationalen Verteidigung der Demokratie wieder hinter sich zu scharen. Auf diese Hoffnung hatte man die Koalition gegründet - und diese hielt, solange es eine Chance auf militärischen Erfolg gab. Als sich aber der Zusammenbruch der Offensive abzeichnete, zerbrach auch die Koalition.“

 

Literatur

 

 Orlando Figes,  Die Tragödie eines Volkes – die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924, München 2001

 

© Brigitte Forßbohm, Michael Forßbohm, Herderstr. 31, 65185 Wiesbaden, Tel (06 11) 30 94 33, info@brigitteforssbohm.de