Russland 1917

Die ersten 100 Tage der volkskommissare

Sendemanuskript vom 14.12.2017

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Der Rat der Volkskommissare im Dezember 1917, in: The Russian Revolution, St. Petersburg, 2017.

 

Heute hören Sie die zehnte und letzte Folge unserer Sendereihe „1917 – das Jahr der russischen Revolution“.

Wir schildern die ersten Dekrete der Sowjetmacht und die Ereignisse in den ersten Wochen nach dem Oktoberumsturz. In der zweiten Hälfte der Sendung geht es um die Auflösung des ersten frei gewählten Parlaments in Russland im Januar 1918. Das Manuskript dieser Sendung schrieben Michael und Brigitte Forßbohm.

Wir verwenden für Datumsangaben den altrussischen Julianischen Kalender, der bis zum 1. Februar 1918 galt und 13 Tage hinter unserem Gregorianischen Kalender „nachgeht“.

 

In der letzten Sendung am 16. November schilderten wir wie sich Lenin nur mit knapper Mehrheit mit seinem Plan zum Sturz der Provisorischen Regierung durch ein bolschewistisches Militärkomitee in der von ihm geleiteten Partei durchsetzte, wie dieser Plan in der Nacht vom 25. auf den 26. Oktober 1917 ausgeführt wurde und wie der zweite Allrussische Räte- auf russisch: Sowjet-Kongress reagierte.

 

Der 2. Allrussische Sowjetkongress 25./26.Oktober 1917:

Dekrete über den Frieden und die gerechte Verteilung von Grund und Boden

 

Wir nehmen Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, jetzt mit auf diesen Kongress der Delegierten aus den Sowjets des weiten russischen Reichs, der am Abend des 25. Oktober zusammengetreten war, während draußen in der Stadt die Bahnhöfe, Elektrizitätswerke, Post- und Telegrafenämter und weitere Schlüsselstellungen von den Aufständischen des revolutionären Militärkomitees der Bolschewiki besetzt wurden. Zahlreiche Delegierte aus den Reihen der sozial-demokratischen Menschewiki und der Sozialrevolutionären Bauern-partei verließen aus Protest gegen die Verhaftung der Provisorischen Regierung den Kongress. Damit war die Hoffnung auf eine sozia-listische Koalitionsregierung gescheitert. Übrig blieben die Bolschewiki und die Anhänger des linken Flügels der Sozialrevolutionäre.

 

Leo Trotzki beschrieb die Versammlung so:

 

„Die von den örtlichen Sowjets Delegierten waren meist Arbeiter oder Soldaten. Das waren meist Menschen ohne großen Namen, dafür aber durch die Tat erprobte, die sich das feste Vertrauen erobert hatten. … Das Äußere des Kongresses gab ein Bild von seiner Zusammensetzung. Die Offiziersachselstücke, Intellektuellenbrillen und Krawatten des ersten Kongresses im Juni 1917 waren fast völlig verschwunden. Ungeteilt herrschte die graue Farbe, in der Kleidung wie auf den Gesichtern. Alles war durch die Dauer des Krieges abgetragen. Viele städtische Arbeiter hatten sich Soldatenmäntel zugelegt. Die Schützengraben-Delegierten sahen gar nicht malerisch aus: seit langem unrasiert, in alten zerrissenen Mänteln, in schweren Pelzmützen, aus denen nicht selten Watte herausquoll, über zerzaustem Haar. Grobe, verwitterte Gesichter, schwere, rissige Hände, von Tabak gelbe Finger, abgerissene Knöpfe, herabhängende Mantelgurte, verschrumpfte, rot-gelbe, längst nicht mehr geschmierte Stiefel. Die plebejische Nation hatte zum ersten Mal eine ehrliche, ungeschminkte Vertretung nach ihrem eigenen Ebenbild entsandt …

Lenin, den der Kongress noch nicht gesehen hat, erhält das Wort zur Friedensfrage. Sein Erscheinen auf der Bühne ruft nicht enden wollende Begrüßungen hervor.“ 1)

 

John Reed schildert diese Szene ebenfalls:

 

„Und nun stand Lenin vorn, die Hände fest an den Rand des Rednerpults gekrampft, seine kleinen blinzelnden Augen über die Menge schweifen lassend, wartend, bis der minutenlange, ihm offensichtlich gleichgültige Beifallssturm sich gelegt haben würde. Als er endlich beginnen konnte, sagte er einfach: „Wir werden jetzt mit dem Aufbau der sozialistischen Ordnung beginnen.“ Und wieder raste ein wilder Begeisterungssturm durch den Saal.“ 2)

 

Lenin verlas dann das erste Dekret der neuen provisorischen Regierung, die sich Rat der Volkskommissare nannte, und der er vorstand, das „Dekret über den Frieden“, das wir hier verkürzt wiedergeben:

„Die Arbeiter- und Bauernregierung, die durch die Revolution vom 25. Oktober geschaffen wurde (...) schlägt allen kriegführenden Völkern und ihren Regierungen vor, sofort Verhandlungen über einen gerechten demokratischen Frieden aufzunehmen.“

Darunter verstand Lenin einen Frieden ohne Aneignung fremder Territorien und ohne Entschädigungsleistungen. Lenin fuhr fort:

„Diesen Krieg fortzusetzen, um die Frage zu entscheiden, wie die reichen und starken Nationen die von ihnen annektierten schwachen Völkerschaften unter sich aufteilen sollen, hält die Regierung für das größte Verbrechen an der Menschheit, und sie verkündet feierlich ihre Entschlossenheit, unverzüglich Friedensbedingungen zu unterzeichnen, die diesem Krieg (...) ein Ende machen.“ 3)

Der Kongress bestätigte das Dekret.

 

Tatsächlich vereinbarten die deutsche und die russische Regierung noch im November 1917 einen Waffenstillstand an ihren Fronten und traten in Verhandlungen ein, die zum Separatfrieden zwischen Deutschland und Russland führten, der in Brest-Litowsk, 200 km östlich von Warschau gelegen, ausgehandelt und im März 1918 unterzeichnet wurde. Damit hatte die neue Regierung die seit dem Februar 1917 erhobene Forderung der Massen nach sofortigem Frieden erfüllt, allerdings mit großen Gebietsverlusten.     

 

Auch zur Frage einer neuen, gerechten Verteilung von Grund und Boden, die Jahrzehnte lang auf der Agenda der Bauern gestanden hatte, legte Lenin ein Dekret des Rates der Volkskommissare vor, das er verfasst hatte und in das er den so genannten bäuerlichen Wählerauftrag übernommen hatte. Es lautet auszugsweise wie folgt:

 

„1. Das Eigentum der Gutsbesitzer an Grund und Boden wird unverzüglich ohne jede Entschädigung aufgehoben.

2. Die Güter der Gutsbesitzer … gehen bis zur Konstituierenden Versammlung in die Verfügungsgewalt der Amtsbezirks-Bodenkomitees und der Kreissowjets der Bauerndeputierten über.

3. Jegliche Beschädigung des konfiszierten Besitzes, der von nun an dem ganzen Volk gehört, wird als schweres Verbrechen erachtet, das vom Revolutionsgericht zu ahnden ist. …“ 4)

 

Dem bäuerlichen Wählerauftrag, in den landesweit über 200 Anträge aus der Bauernschaft eingegangen waren, sind die folgenden Sätze entnommen:

 

„Die Bodenfrage kann in ihrem ganzen Umfang nur durch die vom gesamten Volk gewählte Konstituierende Versammlung gelöst werden. Die gerechteste Lösung der Bodenfrage ist die folgende: Das Privateigentum an Grund und Boden wird für immer aufgehoben, der Boden darf weder verkauft noch gekauft, weder in Pacht gegeben noch verpfändet, noch auf irgend eine andere Weise veräußert werden (...) Der gesamte Boden wird zum Gemeineigentum des Volkes erklärt und allen, die ihn bearbeiten, zur Nutzung übergeben (...) Alle Bodenschätze (...) gehen in die Nutzung des Staates über.“ 5)

 

Auf Einwände, das Dekret und der Wählerauftrag sei nicht von den Bolschewiki, sondern von der Sozialrevolutionären Bauernpartei abgefasst worden, entgegnete Lenin:

 

„Sei´s drum! Es ist einerlei von wem sie abgefasst worden sind; als demokratische Regierung können wir einen Beschluss der Volksmassen nicht umgehen, selbst wenn wir mit ihm nicht einverstanden wären (…) Das Leben wird es mit sich bringen, dass wir in dem allgemeinen Strom der revolutionären schöpferischen Arbeit, bei der Ausarbeitung der neuen Staatsformen einander näher kommen. Wir müssen mit dem Leben Schritt halten, wir müssen der schöpferischen Kraft der Volksmassen volle Freiheit gewähren ..." 6)

 

Aufhebung der Pressefreiheit

 

So locker im Umgang war Lenin mit politischen Rivalen aber nur, wenn sie mit ihm am „gleichen Strick zogen“.

 

Orlando Figes bemerkt hierzu:

 

„Seit den ersten Tagen ihres neuen Regimes hatten die Bolschewiki es darauf angelegt, all jene Parteien als ,konterrevolutionär' zu vernichten, die im Oktober ihre Machtübernahme abgelehnt hatten. Am 27. Oktober verbot der Rat der Volkskommissare die oppositionelle Presse. Das Verbot wurde mit Empörung aufgenommen.“ 7)

 

In dem von Lenin unterzeichneten Dekret heißt es:

 

„Die Arbeiter- und Bauernregierung lenkt das Augenmerk der Bevölkerung darauf, dass sich in unserer Gesellschaft hinter diesem liberalen Tarnmantel faktisch die Freiheit für die besitzenden Klassen verbirgt, die den größten Teil der Presse in ihren Händen konzentriert haben – die Freiheit, das Bewusstsein der Massen ungehindert zu vergiften und es zu verwirren (...)

Darum sind zeitweilige und außerordentliche Maßnahmen ergriffen worden, um diesen Strom von Schmutz und Verleumdung abzudämmen, in dem die gelbe und grüne Presse gar zu gern den jungen Sieg des Volkes ertränkt hätte (...)

In Anbetracht dessen, dass eine Einschränkung der Presse selbst in kritischen Momenten doch nur im absolut notwendigen Rahmen zulässig ist, beschließt der Rat der Volkskommissare: nur jene Presseorgane sind zu verbieten, die

– zum offenen Widerstand oder zur Widersetzlichkeit gegen die Arbeiter- und Bauernregierung aufrufen

–  durch offensichtlich verleumderische Entstellung von Tatsachen Verwirrung stiften

– zu gesetzeswidrigen Handlungen aufrufen.“ 8)

 

Dieses Dekret löste helle Empörung bei vielen Demokraten und Sozialisten aus.

 

Der Schriftsteller Maxim Gorki meldete sich 10 Tage später in der von ihm herausgegebenen Zeitung „Neues Leben“ zu Wort:

 

„Lenin, Trotzki und ihre Gefährten sind bereits vom faulen Gift der Macht infiziert, davon zeugt schon ihre schändliche Einstellung zur Redefreiheit, zur Person und zu allen Rechten, für deren Sieg die Demokratie gekämpft hat. … Ich frage: erinnert sich die russische Demokratie an die Ideen, für deren Sieg sie gegen den Despotismus der Monarchie gekämpft hat? Hält sie sich für fähig, diesen Kampf auch heute fortzusetzen? Erinnert sie sich daran, dass sie die Kampfmethoden der Monarchie niederträchtig genannt hat, als die Gendarmen der Romanovs ihre geistigen Führer ins Gefängnis und zur Zwangsarbeit schickten?“ 9)

 

Rosa Luxemburg: "Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden"

 

In ihrer Schrift „Zur Russischen Revolution“ schrieb Rosa Luxemburg zum Thema „Freie Presse“:

 

„Ohne eine freie, ungehemmte Presse ohne ungehindertes Vereins- und Versammlungsleben ist gerade die Herrschaft breiter Volksmassen völlig undenkbar (...)

Lenin sagt: der bürgerliche Staat sei ein Werkzeug zur Unterdrückung der Arbeiterklasse, der sozialistische – zur Unterdrückung der Bourgeoisie. Es sei bloß gewissermaßen der auf den Kopf gestellte kapitalistische Staat. Diese vereinfachte Auffassung weicht vom Wesentlichen ab: Die bürgerliche Klassenherrschaft braucht keine Schulung und Erziehung der ganzen Volksmasse, wenigstens nicht über gewisse eng gezogene Grenzen hinaus. Für die proletarische Diktatur ist sie das Lebenselement, die Luft, ohne die sie nicht zu existieren vermag. (...)

Gerade die riesigen Aufgaben, an die die Bolschewiki mit Mut und Entschlossenheit herantraten, erforderten die intensivste politische Schulung der Massen und Sammlung der Erfahrung. Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, Freiheit nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus der ,Gerechtigkeit', sondern weil all das Belebende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die Freiheit zum Privilegium wird (...)

Das öffentliche Leben der Staaten mit beschränkter Freiheit ist eben deshalb so dürftig, so schematisch, so unfruchtbar, weil es sich durch Ausschließung der Demokratie die lebendigen Quellen allen geistigen Reichtums und Fortschritts absperrt (...) Die ganze Volksmasse muss daran teilnehmen. Sonst wird der Sozialismus vom grünen Tisch eines Dutzends Intellektueller dekretiert, oktroyiert.“ 10)

 

Luxemburg schrieb „Zur Russischen Revolution“ im September und Oktober 1918 im Breslauer Gefängnis nieder, wo sie von Freundinnen und Freunden reichlich mit Informationen über die Lage in Russland versorgt wurde. Ihre Kritik am Brester Friedensschluss wurde in den „Spartakusbriefen“ im Septemberheft mit einer einschränkenden redaktionellen Notiz veröffentlicht, weitergehende Kritik wurde von der Redaktion abgewiesen. Sie schrieb das Manuskript für Paul Levi, um wenigstens ihn zu überzeugen; er hielt es bis nach seinem Ausschluss aus der KPD 1922 geheim; erst dann veröffentlichte er es. 1963 nahm Ossip K. Flechtheim die Schrift in einen Sammelband auf; daraufhin erschien sie auch in der DDR. In russischer Sprache erschien sie erst 1990! 11)

 

"Alle Macht den Räten!"?

 

Die Losung „Alle Macht den Räten“ hatte Lenin als zentrale Forderung in seinen Aprilthesen vertreten. Sie war seitdem die populärste Losung der Bolschewiki und der hinter ihnen stehenden Arbeiter und Soldaten gewesen, hatte auf unzähligen Spruchbändern und Plakaten gestanden und hatte lautstark Demonstrationen begleitet.

 

Anstatt aber dem 2. Allrussischen Rätekongress „alle Macht“ auch in der Frage, wer Russland regieren solle, zu geben, betrieb Lenin mit äußerster Energie den bewaffneten Aufstand kurz vor dem Kongress, um ihn vor vollendete Tatsachen zu stellen. Nach dem provozierten Auszug seines Kampfgefährten aus den 1890er Jahren, Julius Martow, und anderer möglicher Partner einer sozialistischen Koalitionsregierung aus dem Kongress ließ Lenin sich als Vorsitzenden und weitere 14 Bolschewiki als neue provisorische Regierung unter der Bezeichnung „Rat der Volkskommissare“ bestätigen.

 

Der Kongress war am 27. Oktober zu Ende gegangen. Er hatte wichtige Weichen in Richtung Waffenstillstand und Friedensverhandlungen sowie auf Enteignung der Großgrundbesitzer gestellt. Aus seiner Mitte wurde als Entscheidungsgremium bis zum folgenden landesweiten Sowjetkongress ein Exekutivkomitee gewählt.

 

Orlando Figes berichtet:

 

„Am 4. November dekretierte sich der Rat der Volksbeauftragten selbst das Recht, dringende Gesetze ohne Bestätigung durch die Räte zu verabschieden – ein klarer Bruch mit den Prinzipien der Rätemacht. Die gemäßigten Bolschewiki stimmten zusammen mit der Opposition gegen dieses Dekret, das dennoch mit zwei Stimmen Mehrheit im Exekutivkomitee durchkam. Kamenjew trat als Vorsitzender dieses Komitees zurück und schloss sich der Opposition an, um gemeinsam mit ihr die Souveränität der Räte zu verteidigen.“ 12)

 

Sein Nachfolger Swerdlow war ein enger Gefolgsmann Lenins; er brachte am 17. November einen Beschluss durch, das dem Rat der Volksbeauftragten freie Hand gab.

Figes kommentiert:

 

„Das Prinzip der Rätemacht, auf das die Bolschewiki ihr Recht zu herrschen stützten, hatte man begraben; das Exekutiv-Komitee der Sowjets war zur ,traurigen Parodie des revolutionären Parlaments' verkommen.“ 13)

 

Michael Schneider geht in dem 1992 erschienenen Buch „Das Ende eines Jahrhundertmythos“ der Frage nach, wie Lenin zum Parlament, den Räten und der Partei steht und beschreibt „zwei Seelen“ in Lenins Brust (118):

 

„In den Räten erblickte Lenin die moderne Form der Selbstregierung des Volkes, die höhere Form der Demokratie, welche in seinen Augen die parlamentarische Demokratie überflüssig machte. Allerdings wohnten und stritten, faustisch gesprochen, zwei Seelen in seiner Brust: der Rätesozialist und der bolschewistische Autokrat und Zentralist. Mit seinem Bekenntnis zum Rätesystem, das er erst 1917 entdeckt hatte, war denn auch kein Bekenntnis zu Föderalismus und Spontaneität der Massen verbunden. Lenin hatte zwar seine Parteimaschine aufgebaut, aber die Räte waren nicht sein Werk, sie waren eine Schöpfung der Volksmassen. Er wollte sie zunächst benutzen, um den russischen Imperialismus zu zerschlagen und die demokratische Revolution zu vollenden, weil unter den Verhältnissen von 1917 nur die Räte diese Aufgabe lösen konnten. Dass der Rätesozialist Lenin zuletzt doch dem bolschewistischen Zentralisten und Technokraten Lenin weichen würde, sollte sich erst nach dem Oktober und im Bürgerkrieg erweisen.“ 14)

 

So diente die Losung „Alle Macht den Räten“ Lenin in seiner Agitation ab April als bessere Alternative gegenüber der Provisorischen Regierung und, nach deren Ablösung, als revolutionäre Errungenschaft, der die Konstituierende Versammlung im Weg stand. Diesem aus allgemeinen und direkten, freien und geheimen Wahlen hervorgehenden Parlament sollten die Verabschiedung einer russischen Verfassung und damit die Bestimmung der Staatsform obliegen. Von Frankreich ausgehend, hatte diese Idee seit dem frühen 19. Jahrhundert die Demokraten in ganz Europa, so auch in Russland, begeistert.

 

Das Schicksal der "Konstituierenden Versammlung"

 

Wir erinnern uns: der Zar hatte Anfang März 1917 abgedankt. Die Lenkung des Staats war damals auf eine Provisorische Regierung übergegangen, die sich aus Mitgliedern der zaristischen Duma zusammensetzte und damit nicht demokratisch legitimiert war. „Provisorisch“ war die Regierung, da sie selbst sich als „zeitweiligen Hüter des Staates bis zur Wahl der Konstituierenden Versammlung“ (Figes) verstand. Die Provisorische Regierung berief Ende März einen Rat zu deren Vorbereitung ein, der zwei Monate zu seiner eigenen Konstituierung brauchte und auch dann nicht arbeitsfähig war. Figes berichtet:

 

„Unter wachsendem öffentlichem Druck kündigten die Führer der Provisorischen Regierung Mitte Juni an, dass die Wahlen endgültig am 17. September durchgeführt würden (...) Im August war man kaum weitergekommen, und das Datum der Wahl wurde noch einmal auf den 12. November verschoben. Zu diesem Zeitpunkt aber waren die Bolschewiki bereits an der Macht." 14) 

 

Auch der Rat der Volkskommissare bezeichnete sich als provisorische Arbeiter- und Bauernregierung zur Verwaltung des Landes bis zur Einberufung einer Konstituierenden Versammlung. Alle möglichen Gesetze und Dekrete enthielten den Vorbehalt, dass sie entweder bis zum Zusammentreten der Konstituierenden Versammlung galten oder von dieser bestätigt werden mussten.

 

Mitte November lag das Wahlergebnis des ca. 700 Sitze umfassenden, erstmals frei gewählten russischen Parlaments vor. Michael Schneider berichtet:

 

„Auch wenn die Bolschewiki den Sowjetkongress, die bislang einzige demokratisch legitimierte Vertretungskörperschaft des Volkes hinter sich hatten, so brachten ihnen die im November nun endlich stattfindenden Wahlen zur Konstituierenden Versammlung nur knapp 24% der Stimmen, dagegen einen überwältigenden Wahlsieg der Sozialrevolutionären Bauernpartei.“ 15)

 

Menschewiki und Konstitutionelle Demokraten waren weit abgeschlagen. Obwohl der „Bäuerliche Wählerauftrag“ die alleinige Handschrift der Sozialrevolutionären Bauernpartei trug und sich optimal in das von Lenin verfasste Dekret über die Bodenreform einfügte, obwohl Lenin seit 20 Jahren immer betont hatte, dass nur im Bündnis mit den Bauern der Zar gestürzt werden und eine neue Gesellschaft aufgebaut werden könne, wollte er das Wahlergebnis und seine Konsequenzen nicht akzeptieren. So schrieb er am 12.12.1917 in seinen „Thesen über die Konstituierende Versammlung“:

 

„Die revolutionäre Sozialdemokratie, die die Forderung nach Einberufung der Konstituierenden Versammlung erhob, hat vom ersten Tage der Revolution von 1917 an wiederholt betont, dass die Republik der Sowjets eine höhere Form der Demokratie ist als die gewöhnliche bürgerliche Republik mit der Konstituierenden Versammlung (...)

Aus der Gesamtheit der oben dargelegten Umstände ergibt sich, dass eine Konstituierende Versammlung, die auf Grund der Kandidatenlisten einberufen wird, wie sie vor der bäuerlich-proletarischen Revolution, zu einer Zeit bestanden, als die Bourgeoisie herrschte, unvermeidlich mit dem Willen und den Interessen der werktätigen und ausgebeuteten Klassen in Konflikt gerät, die am 25. Oktober die sozialistische Revolution gegen die Bourgeoisie begonnen haben …“ 16)

 

Wir möchten anmerken, dass Lenin hier den von einem Militärkommando der Bolschewiki erzwungenen Rücktritt der Provisorischen Regierung zur „bäuerlich-proletarischen Revolution“ aufgewertet.

 

Figes schildert das Zustandekommen und den Ablauf der Konstituierenden Versammlung:

 

„Am 20. November wurde die Eröffnung der Konstituierenden Versammlung vom Rat der Volkskommissare auf unbestimmte Zeit verschoben, nur acht Tage, bevor sie zusammentreten sollte. Am nächsten Tag erließ der Rat ein Dekret, das den Wählern das Recht gab, ihre Deputierten (…) abzuberufen, wenn mehr als die Hälfte der Wähler eines Wahlkreises die Abberufung unterstützte.“ 17)

 

Wir fragen: Sollten dadurch die Stimmabgaben in den Wahlkabinen nachträglich durch Unterschriftenlisten korrigiert werden?

 

Am 28. November demonstrierten Zehntausende vor dem Taurischen Palais, um die Einberufung der Konstituierenden Versammlung zu fordern. Die Organisatoren der Kundgebung, darunter auch Mandatsträger des neuen Parlaments, wurden unter dem Vorwurf der „Konterrevolution“ verhaftet. Am 7. Dezember wurde die „Tscheka“ die „Kommission beim Rat der Volkskommissare zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage“, die nichts anderes als eine im rechtsfreien Raum operierende Geheimpolizei war, gegründet. Die Partei der Konstitutionellen Demokraten (Kadetten) wurde am 11. Dezember verboten. Die Tscheka verhaftete in den folgenden Wochen nicht nur bürgerliche, sondern auch menschewistische und sozialrevolutionäre Aktivisten und Politiker.

 

Gorkij kommentierte die Vorgänge am 6. Dezember:

 

„Man will die Kadetten aus der Konstituierenden Versammlung hinauswerfen. Nun wünscht sich aber ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung, dass gerade die Kadetten seine Meinung und seinen Willen in der Konstituierenden Versammlung zum Ausdruck bringen. Die Vertreibung der Kadetten würde also bedeuten, den Willen Hunderttausender Menschen zu vergewaltigen. Von dieser Schande will ich hier nicht sprechen, aber ich möchte darauf hinweisen, dass die kultiviertesten Menschen unseres Landes, die Tüchtigsten auf allen Gebieten geistiger Arbeit, der Kadetten-Partei angehören. Es ist äußerst nützlich, einen klugen und standhaften Feind vor sich zu haben. Ein kluger Feind erzieht seinen Gegner, er macht ihn klüger und stärker. Das muss die Arbeiterintelligenz begreifen.“ 18)

 

Die Konstituierende Versammlung trat nun endlich am 5. Januar 1918 zusammen. Wieder hatten sich Tausende von Demonstranten unter der Losung „Alle Macht der Konstituierenden Versammlung!“ in der Nähe des Tagungsortes versammelt.

„Als sich die Demonstranten dem Litejni-Prospekt näherten, wurden sie von bolschewistischen Truppen unter Beschuss genommen (...) Mindestens 10 Menschen wurden getötet und einige Dutzend verwundet.“ 19) Michael Brie schreibt von 21 Todesopfern. 20)

 

Gorkij erinnerte an den St. Petersburger Blutsonntag am 9. Januar 1905 und zog eine Parallele zu den jüngsten Ereignissen:

 

„Am 5. Januar 1918 demonstrierte die Petersburger Demokratie – Arbeiter und Angestellte – friedlich zu Ehren der Konstituierenden Versammlung. Die besten russischen Menschen haben fast 100 Jahre für die Idee der Konstituierenden Versammlung gelebt, für die Idee eines politischen Organs, das der gesamten russischen Demokratie die Möglichkeit geben sollte, ihren Willen frei zu äußern. Im Kampf für diese Idee ließen Tausende von Intellektuellen, Zehntausende von Arbeitern und Bauern in Gefängnissen, in der Verbannung, bei der Zwangsarbeit, am Galgen und unter den Kugeln der Soldaten ihr Leben. Ströme von Blut flossen auf den Opferaltar dieser heiligen Idee, und jetzt haben die ,Volkskommissare' befohlen, die Demokratie zu erschießen, die zu Ehren dieser Idee demonstrierte. Ich erinnere daran, dass sogar viele ,Volkskommissare' während ihrer gesamten politischen Tätigkeit den Arbeitern eingeredet haben, wie notwendig es sei, für die Einberufung der Konstituierenden Versammlung zu kämpfen.“ 21)

 

Misstrauensvotum für die Bolschewiki

 

Drinnen im Taurischen Palais wurde die Konstituierende Versammlung um 16 Uhr eröffnet. Nach einem Bericht der Wilnaer Zeitung vom 10. Januar 1918 wurde zunächst ein Antrag zur Schaffung einer wahren Volksrepublik mit 226 zu 169 Stimmen angenommen, der ein Misstrauensvotum gegen den Rat der Volkskommissare darstellte. 22) Die unterlegenen Bolschewiki brachten nun die von Lenin verfasste „Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes“ vor; sie wurde mit 237 gegen 146 Stimmen abgelehnt. Daraufhin zogen die Bolschewiki aus der Versammlung aus.

Die mehrere Seiten lange „Deklaration“ lief darauf hinaus, die Dekrete des Rats der Volkskommissare pauschal zu unterstützen und gipfelte hinsichtlich der Konstituierenden Versammlung in der Feststellung, „dass ihre Aufgaben mit der Festlegung der grundlegenden Richtlinien für die sozialistische Umgestaltung erschöpft sind.“ 23) Da die Konstituierende Versammlung dieser Selbstentmachtung ihre Zustimmung verweigerte, erließ der Rat der Volkskommissare über Nacht ein Dekret, in dem er ausführte:

 

„Es ist klar, dass der übriggebliebene Teil der Konstituierenden Versammlung nur eine Rolle des verstärkten Kampfes der bourgeoisen Gegenrevolution durch Kürzung der Macht der Sowjets spielen kann. Deshalb verfügt das zentrale Ausführungskomitee, die Konstituierende Versammlung aufzulösen.“ 24)

 

Rosa Luxemburg verurteilte in ihrer Schrift „Zur Russischen Revolution“ die Auflösung der Konstituierenden Versammlung scharf:

 

„Gewiss, jede demokratische Institution hat ihre Schranken und Mängel, das sie wohl mit sämtlichen menschlichen Institutionen teilt. Nur ist das Heilmittel, das Trotzki und Lenin gefunden: die Beseitigung der Demokratie überhaupt, noch schlimmer als das Übel, dem es steuern soll: Es verschüttet nämlich den lebendigen Quell selbst, aus dem heraus alle angeborenen Unzulänglichkeiten allein korrigiert werden können: das aktive, ungehemmte, energische politische Leben der breitesten Volksmassen.“ 25)

 

Und Trotzki, der schrieb „Als Marxisten sind wir nie Götzendiener der formalen Demokratie gewesen“ antwortete sie:

 

„Wir unterschieden stets den sozialen Kern von der politischen Form der bürgerlichen Demokratie, wir enthüllten stets den herben Kern der sozialen Ungleichheit und Unfreiheit unter der süßen Schale der formalen Gleichheit und Freiheit – nicht um diese zu verwerfen, sondern um die Arbeiterklasse dazu anzustacheln, sich nicht mit der Schale zu begnügen, vielmehr die politische Macht zu erobern, um sie mit neuem sozialem Inhalt zu füllen.

Es ist die historische Aufgabe des Proletariats, wenn es zur Macht gelangt, nicht jegliche Demokratie abzuschaffen. Sozialistische Demokratie beginnt aber nicht erst im gelobten Lande, wenn der Unterbau der sozialistischen Wirtschaft geschaffen ist, als fertiges Weihnachtsgeschenk für das brave Volk, das inzwischen treu die Handvoll sozialistischer Diktatoren unterstützt hat. Sozialistische Demokratie beginnt zugleich mit dem Abbau der Klassenherrschaft und dem Aufbau des Sozialismus.“ 26)

 

Michael Schneider bringt es aus heutiger Sicht auf den Punkt:

 

Das republikanische Erbe, von dem die Bolschewiki nur einen verkürzten und zum Teil verächtlichen Begriff hatten – Parteiendemokratie, Gewaltenteilung, Gleichheit vor dem Gesetz, Schutz der Rechte des Individuums gegenüber dem Staate usw. – sollte denn auch für die nächsten siebzig Jahre nicht mehr heimgeholt werden. Erst Gorbatschows Perestroika und die osteuropäischen Revolutionen des Jahres 1989 haben dieses nach dem Oktober gekappte Erbe, das der Stalinismus vollends verschüttete, wieder aus der Versenkung geholt.“ 27)

 

Sie hörten die zehnte und letzte Folge unserer Sendereihe „1917 – das Jahr der russischen Revolution“. Das Manuskript dieser Sendung schrieben Michael und Brigitte Forßbohm.

 

1) Leo Trotzki: Denkzettel, Wien 2010, S. 210.

 

2) John Reed: 10 Tage, die die Welt erschütterten, Berlin 1957, S. 182.

3) W.I. Lenin: Werke in 6 Bänden, Berlin 1986, Bd. IV, S. 17.

4) Lenin, Bd. 4, S. 28.

5) Lenin, Bd. 4, S. 29.

6) Lenin, Bd. 4, S. 31.

7) Orlando Figes: Die Tragödie eines Volkes, London 1996, München 2001, S. 536.

8) Reed 1957, S. 446.

9) Maxim Gorkij: Unzeitgemäße Gedanken über Kultur und Revolution, Frankfurt am Main 1972, S. 88.

10) Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Band 4 „Zur Russischen Revolution“, S. 358 f.

11) Annelies Laschitza: Im Lebensrausch, trotz alledem. Rosa Luxemburg. Eine Biografie, Berlin 1996, S. 571.

12) Figes, S. 535.

13) Figes, S. 536.

14) Figes, S. 386.

15) Michael Schneider: das Ende eines Jahrhundertmythos, Köln 1992, S.

16) Lenin, Bd. 4, S. 73 ff.

17) Figes, S. 538.

18) Gorkij, S. 106.

19) Figes, S. 544.

20) Michael Brie: Lenin neu entdecken, Hamburg 2017, S. 55.

21) Gorkij, S. 136.

22) Gorkij, S. 226.

23) Lenin, Bd. 4, S. 114.

24) Gorkij, S. 278.

25) Luxemburg, Bd. 4, S. 355.

26) Luxemburg, Bd. 4, S. 363.

27) Schneider, S. 133.

 

Quellen und Literatur:

John Reed: 10 Tage, die die Welt erschütterten, Berlin 1957, Essen, 2017.

W.I. Lenin: Werke in 6 Bänden, Berlin 1986.

David Shub: Lenin, Wiesbaden 1952.

Leo Trotzki: Denkzettel, Wien 2010.

Maxim Gorkij: Unzeitgemäße Gedanken über Kultur und Revolution, Frankfurt am Main 1972.

Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Band 4 „Zur Russischen Revolution“, Berlin 1974.

Annelies Laschitza: Im Lebensrausch, trotz alledem. Rosa Luxemburg. Eine Biografie, Berlin 1996.

Michael Schneider: Das Ende eines Jahrhundertmythos, Köln 1992.

Orlando Figes: Die Tragödie eines Volkes, London 1996, München 2001.

Hans-Heinrich Nolte: Geschichte Russlands, Stuttgart 2012.

Michael Brie: Lenin neu entdecken, Hamburg 2017.

The Russian Revolution 1917–1922, Ausstellungskatalog, St. Petersburg, 2017.

© Brigitte Forßbohm, Michael Forßbohm, Herderstr. 31, 65185 Wiesbaden, Tel (06 11) 30 94 33, info@brigitteforssbohm.de