· 

Offener Brief an Janine Wissler

Zum Interview in der ZEIT vom 12. Juni 2020

Liebe Janine,

du hast große Verdienste, das ist unbestritten. Seit 2008 hältst du die Stellung der Fraktion der LINKEN im Hessischen Landtag, die längste Zeit als Fraktionsvorsitzende. Es ist sicher auch dein Verdienst, dass die LINKE zum dritten Mal in den hessischen Landtag einziehen konnte. Mit deinem sympathischen Auftreten, deiner von Selbstzweifeln ungetrübte Geradlinigkeit, deinem rhetorischen Geschick, erlangst du meist Zustimmung für deine Positionen, die aus deinem Munde als unbestreitbar richtig erscheinen. Selbst solche, die vielleicht andere politische Ansichten in Bezug auf linke Bündnisse haben, halten dir die Treue. Das hast du verdient und es sei dir auch gegönnt. Ja, man kann in dir die Ikone der hessischen LINKEN sehen, aber es ist nun mal nicht einfach, sich mit einer Ikone auseinanderzusetzen. Da die LINKE jedoch nicht alle Zeit der Welt hat, eine politische Strategie zur Beendigung der Vorherrschaft des Neoliberalismus zu entwickeln und die nächste Bundestagswahl näher rückt, ist es doch an der Zeit, einige Fragen aufzuwerfen und Kritik an den bisherigen von dir mit entwickelten Leitlinien linker Politik in Hessen zu äußern, die du mit dankenswerter Offenheit im Interview in der ZEIT formuliert hast.

Gleich zu Anfang des Interviews zweifelst du an, dass mit einer Regierungsbeteiligung der LINKEN politische Veränderungen und reale Verbesserungen für die Menschen erreicht werden könnten. Du nennst Hartz IV, die Rente mit 67, Bundeswehreinsätze und die Nato. Du willst eine Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums, soziale Gerechtigkeit, Klimaschutz und eine friedliche Außenpolitik. In diesem Bestreben werden dir sehr viele Menschen zustimmen.

 

Aber meinst du denn wirklich, dass ohne eine Regierungsbeteiligung der LINKEN etwas in dieser Richtung zu erreichen wäre?

 

Du sagst, wir müssten die Menschen davon überzeugen, dass es eine starke LINKE im Bundestag braucht, und dass man die Macht- und Einkommensstrukturen verändern muss. Aber haben wir nicht allen Grund anzunehmen, dass dies in Koalitionen mit der CDU oder FDP niemals geschehen wird? Um die Umverteilung in Gang zu bringen, braucht es doch Gesetze und um die zu beschließen, eine Regierungsmehrheit im Bundestag. Was nützt es, wenn die LINKE als „antikapitalistische Kraft“ im Bundestag gegen Bundeswehreinsätze stimmt, diese aber mit anderen Mehrheiten munter weiter beschlossen werden? Du setzt die Änderung der „Macht- und Einkommensstrukturen“ vor die Ziele des Klimaschutz und der sozialen Gerechtigkeit. Wie soll das denn funktionieren? Sollen andere Parteien dies etwa auf Zuruf der LINKEN durchsetzen? 

 

Natürlich kann man als Teil der Regierung nicht „automatisch“ etwas zum Besseren verändern. Dazu gehört viel Überzeugungskraft und politisches Geschick, das ich dir durchaus zutrauen würde. Du nennst dann – dies höre und lese ich seit Jahren bei jeder sich bietenden Gelegenheit – das abschreckende Beispiel der hessischen Grünen in der Regierungsverantwortung. Aber entschuldige, es ist doch keine Rede davon, in eine Koalition mit der CDU einzusteigen! Und unser Wahlprogramm soll auch nicht „komplett in die Tonne getreten“, sondern beharrlich umgesetzt werden!

Du meinst aber, es sei besser, in der Opposition zu bleiben und mit „außerparlamentarischen Bewegungen Druck für gute Politik zu machen“. Wird nicht umgekehrt ein Schuh daraus? – Bei einer Regierungsbeteiligung der LINKEN kommt es auf starke, unterstützende außerparlamentarisch Bewegungen, durch Gewerkschaften, Sozial- und Umweltverbände, Klimaaktive und andere an. Außerparlamentarische Bewegungen jedoch, die keine Unterstützung durch Parteien in der Regierung finden, erreichen wenig bis nichts. Dafür sind die großen Bewegungen gegen die Rentenreform in Frankreich und gegen Waffenlobby und Rassismus in den USA bedauerliche Beispiele.

Du sagst: „Niemand braucht eine weitere Partei im Bundestag, die für Auslandseinsätze, für Aufrüstung oder für Demokratieabbau stimmt oder die die dringend notwendige sozial gerechte Steuerreform nicht durchsetzt.“ Nein, das brauchen wir wirklich nicht, aber eine, die in diesem Sinne wirksam wird.

Dass es „nicht ein bisschen Krieg oder ein bisschen Bundeswehreinsatz, genauso wenig wie ein bisschen schwanger“ gäbe? Entschuldige – der Vergleich hinkt. Weniger Bundeswehreinsätze, weniger Krieg wären sehr wohl erstrebenswerte Ziele!

Sollte man im Interesse einer gesellschaftlichen Entwicklung nach links die linken Kräfte bei Grünen und SPD auch innerhalb ihrer Parteien zu unterstützen? Mit Saskia Esken, Norbert Walter-Borjans und Kevin Kühnert sind in der SPD Kräfte gestärkt worden, die Ansätze zu einer Zusammenarbeit beim Thema Umverteilung, Abschaffung der Hartz -Sanktionen und weiteren sozialen Fragen bieten. Das kann man doch nicht ignorieren. Das Konzept eines „Green New Deal“ bietet Ansatzpunkte für eine Zusammenarbeit mit den Grünen, wozu Annalena Baerbock und Robert Harbeck bessere Voraussetzungen bieten als Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir.

Schwarz-rote und schwarz-grüne Koalitionen sind doch anders zu bewerten, als rot-rot-grüne Bündnisse, in denen sehr wohl Potentiale gegen die herrschende neoliberale Politik stecken. Könnte nicht ein solches Bündnis eine eigene politische Dynamik entfalten? Eine Chance für eine rot-rot-grüne Mehrheit bei den Bundestagswahlen gibt es jedoch nur, wenn den Wähler*innen glaubhaft gemeinsame Programmpunkte vorgelegt werden, die im Falle einer Mehrheit für das Bündnis verwirklicht werden könnten. Nur dann könnten alle drei Parteien in der Wählergunst punkten. Und die schwindet derzeit leider auch für die LINKE in Hessen.

 

Zweifellos ist es ein Vorteil der Opposition, ihr Programm gewissermaßen „rein“ zu halten. Allerdings um den Preis des Zuschauens wie andere eine entgegengesetzte Politik durchsetzen. Die LINKE muss sich die Frage stellen lassen, was sie denn von ihrer Programmatik in der Opposition bisher hat verwirklichen können. Da bleibt nicht viel. Der Mindestlohn? – Ja, aber unzureichend. Hartz IV? – In der Sanktionspraxis noch schlimmer geworden. Renten? – Der neoliberale Zug der Rentenkürzung läuft ungebremst. Waffenexporte? – Mehr denn je. Auslandseinsätze der Bundeswehr? – Kein Ende in Sicht. Von einem Innenminister Seehofer und seiner Abschiebepolitik will ich erst gar nicht reden…

Es ist zu befürchten, dass es nach weiteren fünf Jahren in der Opposition zu einem bösen Erwachen kommt, denn nichts bleibt so wie es ist. Es ist mehr als fraglich, ob die LINKE überhaupt die derzeitige Wählergunst halten kann, wenn sie sich nicht entschließt, aktiv in das politische Geschehen einzugreifen, um wirkliche Verbesserungen zu erreichen.

 

Deswegen, liebe Janine, appelliere ich an deine politische Verantwortung und bitte dich, einer Strategie zur Verwirklichung des Programms für einen grundsätzlichen Politikwechsel, der mit dem Neoliberalismus bricht, offen gegenüberzutreten.

 

Mit solidarischen Grüßen

Brigitte Forßbohm                                                                                       18.06.2020

Download
Offener Brief an Janine Wissler
Zu Janine Wisslers ZEITInterview.pdf
Adobe Acrobat Dokument 63.6 KB

Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    Eckhart Dittrich (Mittwoch, 24 Juni 2020 21:14)

    Hallo Brigitte,
    Hallo Janine,

    ich nehme den Inhalt des vorliegenden offenen Briefes zum Anlass, die Frage zu stellen, ob die Führung unsere Partei der Positionierung zum Eintritt in eine Bundesregierung links von Regierungen mit Beteiligung der CDU/CSU zu wenig Aufmerksamkeit widmet. Ich will nicht sagen, dass eine deratige Festlegung auch noch micht später entschieden werden kann, aber das Vorwahljahr ist doch geradezu dafür prädestiniert, eine solche Grundsatzfrage zu klären. Die Voraussetzungen sind objektiv wohl seit vielen Jahren nicht mehr so gut wie jetzt. Ich sehe die neue Spitze der SPD durchaus als potentiellen, ja sogar natürlichen Bündnispartner der Partei der LINKEN. Mit der gegewärtigen Doppelspitze der Grünen kann man bestimmt nicht so einfach zusammenarbeiten, aber viele Themen dieser Partei decken sich mit der Programatik unserer Partei. Beide Parteien machen sich es auf unterschiedlicher Art und Weise selbst schwer, eine unvoreingenommene Haltung gegenüber unsere Partei einzunehmen. Aber die Frage einer Regierungsbeteiligung unserer Partei kann innerhalb der Partei selbst ausdiskutiert werden. Und da sehe ich Defizite. Ich bin eindeutig für die Etablierung einer Rot-rot-grünen Bundesregierung und betrachte die Regierung Thüringens als ideenmäßiges Vorbild für die Regierung der Berliner Republik, wobei die "andere" Bundesregierung natürlich anders als die Thüringer funktionieren wird. Aber wir wären dabei. Und das nicht des Dabeisein Willens, sondern wegen der außerordentlich sinnvillen und notwendigen Möglichkeit, aktiv auf die Bundespolitik im Sinne der sozial Schwachen einzuwirken und gegen das bestehende politische System aktiv zu werden. Für mich wäre es eine große Genugtuung, wenn unsere Partei wenigsten ein paar Idealen der Menschen der ehemaligen DDR nach dreißig Jahren Gesamtdeutschland doch noch politisch gerecht werden.
    Aber das muss in einer echten und offenen Aussprache ergebnisoffen ein für alle Mal geklärt werden. Ich bin überzeugt, dass die Mehrheit unserer Mitglieder eine Regierungsbeteiligung bejat. Das gegenteilige Ergebnis müsste man akzeptieren, würde jedoch unsere Partei früher oder später politisch bedeutungslos machen. Ich bin mir sicher, dass die politische Notwendigkeit obsiegt.