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Katja Kipping: Neue linke Mehrheiten

Katja Kipping hat ein Büchlein geschrieben. Nicht besonders dick, denn sie will uns nicht die Welt erklären. Sie geht auf einige wesentliche Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung ein und entwirft eine Handlungsperspektive für „Neue linke Mehrheiten“. Sie macht ihr politisches Denken transparent und schafft damit überhaupt die Voraussetzung für einen politischen Diskurs.

Katja Kipping. Neue linke Mehrheiten. Eine Einladung. Hamburg 2020.

ISBN 978-3-86754-518-1, EUR 8,00

Kipping kann sich einen ironischen Seitenhieb auf die Parteistrategen nicht verkneifen, wenn sie zum Besten gibt „… dass die Linken von den letzten zwanzig Krisen des Kapitalismus mindestens vierzig vorausgesagt haben.“ Allerdings sieht auch sie „Kipppunkte“ nicht nur beim Klimawandel. Es sind die „vier großen Gefahren: militärische Eskalation, Klimakrise, autoritäre Wende und soziale Spaltung.“ Angesichts dessen gehe es „nicht mehr um strategische Vorlieben“, ob man persönlich eher „radikal“ oder „pragmatisch“ gesinnt sei. Veränderung wird „buchstäblich eine existentielle Frage.“ (30)

Sie setzt Hoffnung sowohl in die vielen neuen Bewegungen, wie #Seebrücke, #Mietenwahnsinn, #Unteilbar, #Frauenstreik oder #FridaysforFuture als auch in das über das traditionell linke Spektrum hinausgehende Engagement für universellen Humanismus und Antifaschismus. Über „Kapitalismus, Ausbeutung und Klassenverhältnisse“ werde mittlerweile selbst in Kreisen gesprochen, in denen das vor ein paar Jahren noch als anstößig galt. Dies gilt auch für die mit der Wohnungsnot hochgespülte Eigentumsfrage. Aber: „Aus linken Ideen, müssen linke Optionen werden“ wie es Ruben Neugebauer von „Seawatch“ fordert. Veränderung kommt nicht nur auf Vorschlag nur einer Partei zustande. Es muss endlich Regierungsmehrheiten links der Union geben, die in der Lage sind, fortschrittliche Politik auch umzusetzen, die dringend nötige sozial-ökonomische Wende in ein Regierungsprojekt zu übersetzen. So lautet die „Handlungsmaxime“. (34)

Kipping sieht drei Möglichkeiten einer zukünftigen Entwicklung: „den Weg in einen noch autoritäreren Kapitalismus, eine neoliberale Variante mit grünem Anstrich oder eine sozial-ökonomische Wende.“ Die parteipolitische Entsprechung der „illiberalen Demokratie“ wären Schwarz-Blau-Braun, Union mit AfD und evtl. FDP, der neoliberalen Variante entspräche Schwarz-Grün und der dritten Möglichkeit eben „neue linke Mehrheiten“, die es 2005 und 2013 im Bundestag schon gegeben hatte, die aber nicht genutzt werden konnten. (45)

Welche sind nun die Inhalte für die „neuen linken Mehrheiten“? Den neoliberalen Privatisierungswellen setzt Kipping eine „Ökonomie des Gemeinsamen“ entgegen und konstatiert, dass selbst der Kapitalismus ohne eine öffentliche, dem Markt entzogene Infrastruktur – Bildung, Sozialsysteme, wissenschaftliche Innovationen – nicht existieren kann. (48) Weiter sucht sie die Alternative zum sinnentleerten „Rennen, Rackern und Rasen“ des Finanzkapitalismus in einem anderen Wirtschaftsmodell, das die „Gemeingüter“ in den Mittelpunkt stellt und die schon bestehenden Strukturen eines „kooperativen Wirtschaftens“ ausbaut. In der „Politischen Ökonomie des Gemeinsamen“ hält sie jetzt schon „kleine Einstiege in den großen Ausstieg aus dem Krisenkapitalismus für möglich. Unter dem von der Zeitschrift „prager frühling“ geprägten Begriff des „Infrastruktursozialismus“, versteht sie „eine universelle Grundversorgung, die nicht mehr auf den Markt setzt, sondern ihn begrenzt und sich am Gemeinwohl orientiert.“ (53) Dazu gehören unter anderem bezahlbarer Wohnraum, gebührenfreier Bus- und Bahnverkehr, ausreichende Kita-Plätze und ein angemessenes Breitbandangebot. Ein politischer Richtungswechsel könnte mit „pragmatischem Realismus“, bewerkstelligt werden, der im Bestehenden ansetzt und zugleich auf eine andere bedürfnisorientierte, demokratische Wirtschaftsweise hinarbeitet. Auch auf der Ebene der EU sieht Kipping die Möglichkeit, Linke, Sozialdemokrat*innen, Ökolog*innen und Sozialliberale mit einem solchen Projekt zu vereinen. Eine soziale, ökologische und friedliche EU werde es nur mit anderen Regierungsmehrheiten geben, wobei Deutschland eine Schlüsselrolle zukomme: „Wer Europa verändern will, muss in Berlin anfangen.“

Im letzten Teil des Büchleins geht es um die strategische Frage, wie sich die erwünschte Politik verwirklichen lässt. Kippings Antwort: durch „Regieren in Bewegung“. Eine Koalition, die sich auf eine Politik von unten, auf „Bewegungen, Initiativen, Verbände, Gewerkschaften und Parteien“ stützt. Sie geht davon aus, dass mit dem von diesen Bewegungen ausgehenden Druck Regierungspolitik „über sich selbst hinausgetrieben werden“ kann. Es geht also nicht um Regieren oder Bewegung, sondern um die Verbindung, der verschiedenen Politikmodi: „Zwischen Parteien und Bewegungen darf es keine Über- bzw. Unterordnungsverhältnisse geben. Weder sind Parteien privilegierte Akteure, noch sind soziale Bewegungen den Parteien moralisch überlegen.“ Praktische Ansätze hierzu sieht sie im rot-rot-grün regierten Berlin.

Vor diesem Hintergrund fordert sie ihre Partei auf, sich von den „lieb gewonnenen Oppositions-Routinen“ zu verabschieden. Denn „die Folgenlosigkeit linken Protests ist selbst zu einem Symptom der postdemokratischen Entleerung geworden.“ Das ist harter Tobak, aber leider hat sie damit recht angesichts der allgegenwärtigen Erfahrung des Ins-Leere-Laufens noch so radikaler Forderungen. Es ist so wie sie sagt, die Leute glauben zwar, dass die LINKEN etwas ändern wollen, aber nicht, dass sie es können. Das nennt sie treffend die „Ohnmachtsfalle“, in die vor allen die Entrechteten, in Armut Lebenden fallen und sie den Rechten in die Hände spielt.

Für die alternative Wirtschaftspolitik, die ein echter Politikwechsel erfordert, müssen Konzepte freilich noch ausgearbeitet werden. Bisherige – leider oft gescheiterte Linksregierungen sollen kritisch reflektiert werden, aber auf keinen Fall besserwisserisch und belehrend, sondern solidarisch. Dies kann als Seitenhieb auf die Genoss*innen verstanden werden, die sich selbst in der Oppositionsrolle unangreifbar eingerichtet haben, dabei an vernichtender Kritik nicht sparen, wenn andere scheitern, die das Wagnis, mehr zu wollen, eingegangen sind wie z.B. Syriza.

Statt abstrakt darüber zu streiten, ob Regieren oder Opposition besser sei, lautet nach Kipping die entscheidende Frage „wie wir es schaffen, besonders wirkmächtig zu sein“.

Der „Dummheit des Opportunismus“ setzt sie die „Schuld der abstrakten Reinheit“ entgegen, „die Gefahr der Unterlassung, wenn notwendige und mögliche Veränderungen nicht umgesetzte werden, weil man es den Falschen überlassen hat, eine Regierungsmehrheit zu bilden.“

Kippings Beitrag ist ansprechend, verbindend, eine politische, dabei ganz persönliche Botschaft. Sie kommt ganz ohne Klassenkampfparolen und den üblichen Kanon linker „Alleinstellungsmerkmale“ aus. Demgegenüber betont Kipping die Vielzahl und Vielfalt systemkritischer Bewegungen und ihr Potential für einen Politikwechsel. Eine Einladung eben zum Dialog.

Brigitte Forßbohm

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Rezension Neue linke Mehrheiten
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