Zu Beginn des zweiten Jahrtausends sprachen Kommunalpolitiker gerne vom „Konzern Stadt“ und meinten dies durchaus positiv.
Der Begriff stand für eine dynamische Entwicklung, für Effektivität, Prosperität und Konkurrenzfähigkeit. Kommunale Betriebe sollten privatisiert oder mit strengen Sparvorgaben in städtische Eigenbetriebe, GmbHs und Aktiengesellschaften überführt werden, um „effektiver“ zu wirtschaften und damit konkurrenzfähiger zu sein.
Heute arbeitet schätzungsweise nur noch ein Drittel der Beschäftigten der Stadt Wiesbaden in der Kernverwaltung als städtische Beamte oder Angestellte des Öffentlichen Dienstes. Diese Entwicklungen gingen in der Regel einher mit Personalabbau und dem Verlust von im Öffentlichen Dienst geltenden Arbeitnehmerrechten sowie Lohn- und Gehaltseinbußen für die ehemals kommunalen, nun privatwirtschaftlich Beschäftigten. Dafür liegen die Gehälter der Geschäftsführer und Manager in den neuen Betriebsformen weit über denen der bisherigen kommunalen Amtspersonen.
Auch von der Kommune wahrgenommene Aufgaben wurden und werden noch immer im großen Stil privaten Unternehmen übertragen. Dies käme die Stadt letztendlich billiger und sei daher im Interesse der Bürger bzw. der „Steuerzahler“.
Stadtentwicklung wird nach diesem Konzept aus privatwirtschaftlicher Perspektive, das heißt aus Sicht der Investoren gesehen, deren Wünschen die Kommunalpolitiker bereitwillig nachkommen sollen, weil sonst „Stillstand“ drohe.
Den Begriff „Konzern Stadt“ hört man mittlerweile nur noch selten, und wenn, dann steht eher ein kritisches Fragezeichen dahinter. Die Begeisterung für das neoliberale Konzept weicht der Ernüchterung. Vor allem von den kleinen, aber aktiven Fraktionen der LINKEN & PIRATEN und der Bürgerliste Wiesbaden (BLW) gehen kritische Impulse aus. Aber auch die Grünen beklagen mittlerweile die fehlenden Kontroll- und Einflussmöglichkeiten und stellen sich gegen weitere Privatisierungen städtischen Eigentums und gegen eine Stadtentwicklungspolitik, die das Interesse der Investoren zum Maßstab des Handelns macht.
Nachdem die Stadtregierung 2012 ein Bürgerbegehren gegen die Teilprivatisierung der kommunalen Dr.-Horst-Schmidt-Kliniken (HSK) mit Hilfe des Kasseler Verwaltungsgerichtshofs verhindert hatte (siehe unten), gründete sich die Bürgerinitiative für den Erhalt öffentlichen Eigentums Gemeinwohl hat Vorfahrt, ein „parteiunabhängiger Zusammenschluss von Wiesbadener Bürgerinnen und Bürgern, die sich für den Erhalt kommunalen Eigentums“ (Selbstdarstellung) einsetzen.
Oberbürgermeister Sven Gerich (SPD), gewann die Wahl 2013 mit der Aussage: „Die Stadt ist kein Konzern!“ und den Versprechen für mehr Bürgerbeteiligung und Transparenz.
Ist demokratische Kontrolle überhaupt noch möglich?
Eine Politik, die die Stadt als Konzern betrachtet, zu dem städtische Regiebetriebe – sie
unterstehen direkt der städtischen Verwaltung–, städtische Eigenbetriebe mit eigenem Haushalt sowie GmbHs und Aktiengesellschaften mit selbständiger Geschäftsführung gehören, an denen die Stadt ganz oder teilweise beteiligt ist, verändert auch die Kommunalpolitik und das Profil des Kommunalpolitikers. Der Fraktionsvorsitzende der CDU, Bernhard Lorenz, verbringt nach eigener Aussage 80 Prozent seiner kommunalpolitischen Tätigkeit in den Aufsichtsgremien städtischer Gesellschaften. Im „Konzern Stadt“ müssen Kommunalpolitiker am besten Betriebswirte sein, damit sie, wenn sie in den Kontrollgremien der städtischen GmbHs und AGs sitzen, überhaupt etwas mitkriegen. Kontrolle und Einfluss des Stadtparlaments wird vor allem
da schwierig, wenn nicht verhindert, wo es sich um GmbHs und AGs handelt, deren Haushaltsführung dem Handelsrecht unterliegt.
Dies stellte sich besonders drastisch im Fall des von der Kraftwerke Mainz-Wiesbaden (KMW) auf der Rheininsel Ingelheimer Aue geplanten Kohlekraftwerks heraus. Obwohl die Mehrheiten der Stadtparlamente von Wiesbaden und Mainz – die Stadtwerke Mainz AG und ESWE Versorgungs AG halten jeweils 50% der Kraftwerke Mainz-Wiesbaden – gegen den Bau waren und die Parlamente beider Städte sich dem Bündnis für eine kohlekraftwerksfreie Region Mainz-Wiesbaden angeschlossen hatten, blieb dies zunächst rechtlich ohne jede Wirkung. Der Versuch der Fraktion der Grünen, den Wiesbadener OB Dr. Müller juristisch an das Votum der Stadtverordnetenversammlung zu binden und sein Abstimmungsverhalten im Aufsichtsrat der KMW entsprechend zu beeinflussen, scheiterte. Erst durch unermüdliche Wirken der Bürgerinitiative gegen das Kohlekraftwerk konnte es schließlich verhindert werden.
Die Kontrolle, die im Interesse der Kommune nötig wäre, ist für die wenigen ehrenamtlichen Kommunalpolitiker kaum zu leisten, zumal die Bilanzen nicht – wie bei den städtischen Regie- und Eigenbetrieben – zum Jahresende vorliegen müssen und oft schwer zu durchschauen sind.
Schuldenbremse und PPP-Projekte
Sparprogramme, Personalabbau und die Privatisierung städtischer Dienstleistungen werden immer wieder neu aufgelegt. Nachdem die Schuldenbremse 2011 in die Verfassung des Landes Hessen aufgenommen wurde und gleichzeitig das Land Hessen die Schlüsselzuweisungen an die Gemeinden drastisch gekürzt hat, leidet der städtische Haushalt unter notorischer Knappheit. Die Kreditaufnahme unterliegt der Genehmigungsbehörde des Landes und ist rigoros beschränkt. Als Ausweg dienen PPP-Projekte, die es privaten Investoren erlauben, aus öffentlichen Projekten über Jahrzehnte hinaus vertraglich abgesicherte Einnahmen aus hohen Mieten und anderen finanziellen Verpflichtungen der Kommune zu erzielen. So führt die so genannte „Schuldenbremse“ paradoxerweise zu größeren finanziellen Belastungen als eine Kreditaufnahme, zumal die Zinsen in den letzten Jahre sehr niedrig sind. Die Gestaltungsfreiheit der Kommune ist durch das Verschuldungsverbot stark eingeschränkt; schon relativ kleine vorübergehende Defizite führen zu neuen Kürzungsorgien, denen vor allem kulturelle und soziale Projekte zum Opfer fallen drohen.
PPP-Projekt Justiz- und Verwaltungszentrum
Tiefgreifende Auswirkungen auf die Stadtentwicklung und das Stadtbild hat das 2009 bezogene Justiz- und Verwaltungszentrum an der Mainzer Straße. Es handelt sich um ein gemeinsames Projekt der Stadt Wiesbaden und des Landes Hessen und eines der größten Privat-Public-Partnership (PPP)–Projekte Deutschlands. Die bisher in der Innenstadt verstreuten Ämter und Behörden sind nun am Stadtrand konzentriert, die bisher genutzten städtischen Immobilien verkauft. Auch die Justizbehörden des Landes Hessen, die seit über 100 Jahren ihren Sitz im Gerichtsgebäude in der Moritzstraße hatten, wurden dorthin verlegt.
An der Mainzer Straße entstand mit dem Justiz- und Verwaltungszentrum für ca. 1200 Beschäftigte ein Riesenbürokomplex aus Beton und Stahl, leider „in monotoner Einfacharchitektur“, so der 2015 verstorbene damalige BLW-Sprecher Michael von Poser. Wie bei PPP-Projekten üblich, hat das Auswahlverfahren im Geheimen und unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden. „Hier wird ein ganzes Viertel errichtet, ohne dass es einen Schimmer von Bürgerbeteiligung gegeben hat“, monierte die BLW in einer Pressemitteilung vom 5.4.2007.
Auch der Architektenwettbewerb fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Die
Beschäftigten der Stadt und der Justiz wurden sowieso nicht gefragt. Ohne genaue Kenntnis des Bauvorhabens und der Details der Finanzierung und ob der Bau durch private Investoren die Stadt wirklich billiger käme als ein kreditfinanzierter Eigenbau hat die Jamaika-Koalition das Projekt Anfang 2007 durchgewinkt. Die Stadt muss nun 30 Jahre lang 225 Mio. Euro aus Steuergeldern an Mieten zahlen, ohne dass die vertraglichen Grundlagen bekannt sind.
Der Auszug der Justizbehörden in den Neubau an der Mainzer Straße hat den Charakter der Moritzstraße und des umliegenden Viertels stark verändert. Seit den 1980er Jahren wünscht der Ortsbeirat ein Bürgerzentrum für den dicht besiedelten Stadtbezirk. Der Plan, im Alten Gericht und dem umliegenden Areal eine neu zu gründende juristische Fakultät der European Business-School (EBS) anzusiedeln, scheiterte 2012. Das denkmalgeschützte Gebäude im Besitz des Landes Hessen steht seit Jahren leer. Die Hochschule Fresenius möchte den Fachbereich Design in einem Neubau im Hof des Alten Gerichts unterbringen. Nach dem Willen der Hessischen Landesregierung und dem Oberbürgermeister von Wiesbaden, Sven Gerich (SPD) sollen im ehemaligen Gerichtsgebäude Wohnungen eingerichtet werden – ein Konzept, das auf Zweifel stößt.
Ein Stadtmuseum, das als PPP-Projekt mit einem Mietmodell, das den städtischen Haushalt über Jahrzehnte stark belastet hätte, an der Wilhelmstraße entstehen sollte, wurde mit einem von der Bürgerinitiative „Gemeinwohl hat Vorfahrt“ auf den Weg gebrachten Bürgerbegehren Ende 2014 verhindert. Nun hat sich eine Initiative gebildet, die im Alten Gericht ein „Haus der Stadtkultur und Stadtgeschichte“ einrichten möchte und schon über 5000 Unterschriften für eine entsprechende Petition gesammelt hat.
„Die Einrichtung des Stadtmuseums mit einem Stadtteilcafé, Künstlerateliers und einem überdachten Innenhof als Veranstaltungs- und Ausstellungsort für viele urbane Aktivitäten wären Alternativen, die im Interesse der sehr dicht besiedelten angrenzenden Stadtviertel dort ihren Ort finden könnten. Sie würden einem regional bedeutenden Kulturdenkmal zu Leben und neuem Glanz verhelfen und könnten die Nutzung von anderen Teilen des Areals als Hochschulstandort sinnvoll ergänzen ...“, heißt es in einer diesen Plan unterstützenden Erklärung der BI „Gemeinwohl hat Vorfahrt“ vom 9.2.2015.
„Wiesbaden brummt“
Nach den Kommunalwahlen 2001 hatten CDU und FDP eine Koalition mit einer sehr
knappen Mehrheit gebildet. Zugeständnis an die FDP war der Verzicht auf die geplante Stadtbahn. In der folgenden Regierungsperiode wurde die Erhaltungssatzung aufgehoben (2003) und damit ein Instrument der sozialen und auch städtebaulichen Steuerung aus der Hand gegeben. Städtische Immobilien wurden im großen Stil verkauft, die verbliebenen in der Wiesbadener Immobilienmanagement GmbH (WIM) zusammengefasst, das städtische Wohnungsamt abgeschafft und die städtischen Wohnungsgesellschaften in GmbHs umgewandelt.
„Wiesbaden brummt“ – mit diesem Slogan zog die CDU in den Kommunalwahlkampf 2006. Das war durchaus positiv gemeint. Man feierte das Entfesseln von Energien zur Stadterneuerung, so wie man sie eben verstand, die vielen Bauprojekte, sprich lärmenden Baustellen, die das Stadtbild letztendlich verschönern, vor allem aber den „Einzelhandelsstandort“ Wiesbaden stärken sollten. „Wiesbaden brummt“ wurde flankiert von verkaufsoffenen Sonntagen, Oster- und Herbstmarkt und vieles mehr. Der Fraktionsvorsitzende der CDU Bernhard Lorenz schwärmte von einer Stadt, die nie zur Ruhe kommt. Nach der Wahl reichte es für CDU und FDP nicht mehr. Eine schwarz-gelb-grüne Jamaika-Koalition paralysierte das kritische Potential der Grünen weitgehend.
Verkaufsflächen bis zum Abwinken
Nach der Fertigstellung des Liliencarrés am Hauptbahnhof (2007, 26000 qm) und des Luisenforums (2008, 21000 qm) am Eingang der Kirchgasse wurden weitere Großprojekte verwirklicht: die „Dernschen Höfe“ und die Großsporthalle mit Geschäftshaus am Platz der deutschen Einheit, während die Neugestaltung der City-Passage noch immer auf sich warten lässt.
Mit den „Dernschen Höfen“ entstanden 14500 qm bebaute Fläche insgesamt, davon 9500 qm Büroflächen und 4200 qm Läden. Wohnungen fehlen leider beim angekündigten „schönen Mix“. Alteingesessene Geschäfte an der Marktstraße wurden an die Peripherie oder ganz aus Wiesbaden heraus gedrängt, andere gaben aus Altersgründen auf. Die Ladenmieten im Neubau sind für sie nicht tragbar. Ohne Aussprache hatte die Jamaika-Koalition aus CDU, Grünen und FDP gemeinsam mit der SPD Mitte 2008 das 75-Millionenprojekt beschlossen, nur LiLi und die BLW stimmten dagegen. Die BLW erstritt später vor Gericht Einblick in die Stellungnahme der Denkmalschutzbehörden – hier gab es Bedenken wegen der Bauhöhe und Baumasse – der nicht mal den Stadtverordneten, geschweige denn der Öffentlichkeit gewährt worden war. Ein Beschluss der Stadtverordnetenversammlung aus den 1990er Jahren, wonach bei innerstädtischen Bauvorhaben mindestens ein Drittel der Fläche für Wohnungen genutzt werden soll, wird schon lange nicht mehr umgesetzt.
Die in die Jahre gekommene City-Passage soll ein irischer Investor modernisieren und bis zur Faulbrunnenstraße hin auf 20000 qm Kauffläche erweitern. Darunter lohne es sich nicht für ihn.
Nach jahrelangem Leerstand zogen 2014 die Stadtbibliothek und die Musikbibliothek in die nun so genannte Mauritius-Mediathek mit 9500 qm Fläche, was auch für die einstmals originelle Hochstättenstraße Impulse für einen Neubeginn geben könnte.
Der Leerstand bei Büroflächen liegt bei 6,3 % (2014). Leerstand und viel Fluktuation gibt es auch bei den großen Einkaufszentren Liliencarré und Luisenforum. Die hohen Mieten dort können nur
Handelsketten bezahlen, die oft gleich mehrere Läden in der Innenstadt betreiben. Die Folgen bleiben aufmerksamen Zeitgenossen nicht verborgen: Statt origineller Vielfalt ein auf gewinnträchtige
Waren reduziertes Angebot für moderne „Erlebniskunden“. Sie werden zu bestimmten Stellen der City geschleust während andere wie z. B. die obere Luisenstraße und das Kirchenreulchen zwischen
Polizei, Bonifatiuskirche und der toten Rückseite von H&M veröden. Das ist nicht der Fall, wo man sich bemüht hat, kleinere Läden und Gastronomie zu erhalten oder zu schaffen wie im Parterre
des Karstadthauses in der Schulgasse, in der Kleinen Schwalbacher Straße und im Altstadtschiffchen.
Bürgerbeteiligung im „Konzern Stadt“?
Es gibt sie, die Initiativen zu mehr Bürgerbeteiligung. Nach einem Stadtverordnetenbeschluss sollen Bürgerinnen und Bürger zusammen mit Personen aus Politik und Verwaltung in einem „trialogischen Prozess“ ein Konzept erarbeiten, das nun (9/2015) im Entwurf vorliegt. Ist jedoch im „Konzern Stadt“ wirkliche Bürgerbeteiligung überhaupt erwünscht?
2012 verkaufte die Stadt 49 % der Anteile der kommunalen Dr.-Horst-Schmidt-Kliniken (HSK) an die Rhön-Klinikum AG und überließ dem Konzern die Geschäftsführung. 13000 Unterschriften Wiesbadener Bürger und Bürgerinnen – weit mehr als das erforderliche Quorum – für die Einleitung eines Bürgerbegehrens wurden auf Betreiben der Stadtregierung in einem paradoxen Urteil vor dem Kasseler Verwaltungsgerichtshof für nichtig erklärt. Seit der Teilprivatisierung ist die Belegschaft um 6 % geschrumpft, die Klinik hat nach dem Weggang mehrerer hoch qualifizierter Spezialisten ihren bis dahin hervorragenden Ruf eingebüßt; schwarze Zahlen sind dennoch nicht in Sicht.
Im denkmalgeschützten Alten Gericht, einem wichtigen Ort der Stadtgeschichte sollen nach einer zwischen dem Land Hessen, der Stadt Wiesbaden und der privaten Hochschule Fresenius unterzeichneten Vereinbarung „zur Neunutzung des Areals des Alten Landgerichts an der Moritzstraße“ Eigentumswohnungen enstehen. Öffentliches Eigentum soll so ohne irgendeine Bürgerbeteiligung privatisiert werden. Eine sachgerechte, ergebnisoffene fachliche Prüfung des Gebäudes für mögliche öffentliche Nutzungen unter enger Einbindung aller beteiligten Fachinstitutionen steht noch immer aus.
Bürgerbeteiligungsangebote entpuppen sich bisher eher als Marketingstrategien für bestimmte Projekte. Gremien, in denen engagierte Bürger in Fragen der Stadtentwicklung konstruktiv und kompetent mitgestalten können, gibt es immer noch nicht.
Nach einer Umfrage des Amts für Strategische Steuerung, Stadtforschung und Statistik aus dem Jahr 2014 wünschen sich die Bürgerinnen und Bürger vor allem mehr Mitspracherechte bei Fragen der Stadtentwicklung und bei städtischen Großprojekten. Dennoch wird noch immer hinter verschlossenen Türen verhandelt. Bis die Ortsbeiräte bzw. die Öffentlichkeit informiert wird, sind Entscheidungen meist schon gefallen.
Erst wurde 2013 wurde ein Gestaltungsbeirat als „sachverständiger, weisungsunabhängiger Beirat“ wie ihn das Hessische Denkmalschutzgesetz fordert, eingerichtet und begleitet fachlich kompetent und kritisch städtische Bauprojekte.
„Mehr Demokratie wagen“ (?!)
Es unterstreicht das hierarchische Konzept der Stadtentwicklung, dass selbst die Aktivitäten zur Aufnahme Wiesbadens in das UNESCO Welterbe von einer dem Oberbürgermeister zugeordneten „Stabsstelle Weltkulturerbe“ ausgehen – ohne Bezug zu anderen städtischen Einrichtungen wie z. B. dem Denkmalschutz.
Eine Kommune ist Teil des demokratischen und sozialen Rechtsstaats. „Mehr Demokratie wagen“ war bis in die 1980er Jahre ein Leitgedanke; Transparenz, Bürgernähe, Bürgerbeteiligung und Dienst am Bürger erstrebenswerte Ziele früherer Kommunalpolitik. Der „Konzern Stadt“ ist demgegenüber hierarchisch organisiert. Es ist der Versuch, aus Privateigentum hergeleitete Weisungsbefugnisse von oben nach unten auf die Kommune zu übertragen. Hier spiegeln sich die zunehmend an Einfluss gewinnenden privatwirtschaftlichen Interessen, die auch in Wiesbaden gegen die Wünsche nach Mitgestaltung, Mitbestimmung und Daseinsfürsorge stehen.
Da lohnt auch noch ein Blick auf das Wahlgeschehen im „Konzern Stadt“. Es weist im Hinblick auf demokratische Normen mittlerweile schwere Defizite auf. Wenn Kommunalpolitiker positive Wahlergebnisse als eine vorab gegebene Legitimation für ihre Entscheidungen verstehen, die sie dann ohne weitere Rücksicht auf die Meinungen und Interessen der Bürger, gewissermaßen als deren Stellvertreter treffen, und häufig sogar gegen den Bürgerwillen durchzusetzen versuchen, die Bürger wiederum erleben müssen, wie wenig Einfluss sie auf „ihre“ Politiker haben, ist Wahlmüdigkeit die Folge. Lag die Wahlbeteiligung bei der Kommunalwahl 2001 noch bei 47,2 %, so waren es 2006 nur noch 39,6 %, 2011 immerhin 41,2 %. Den Oberbürgermeister wählten 2007 nur 26,9 % der Wahlberechtigten, nachdem der ebenfalls aussichtsreiche Kandidat der SPD Ernst Ewald Roth wegen des Versäumens einer fristgemäßen Anmeldung seiner Kandidatur durch seine Partei nicht antreten konnte. 2013 wählte eine knappe Mehrheit von 34,1 % der Wahlberechtigten Sven Gerich (SPD) zum Oberbürgermeister.
Eine wahrlich schmale Basis für eine so folgenreiche Politik.
Brigitte Forßbohm
Aus: Wiesbaden und Rheingau zu Fuß, 22 Rundgänge durch Geschichte und Gegenwart, Hg. Geschichtswerkstatt
Wiesbaden, Wiesbaden 2009. Aktualisiert im September 2015.
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