Russland 1917

Lenins Schrift Staat und Revolution

Sendemanuskript

 

Do, 21.09.2017

 

Lenin konzipierte in seiner Schrift „Staat und Revolution“ , die „Diktatur des Proletariats“ als Staatsform. Mit der Auflösung der Konstituierenden Versammlung schafften die Bolschewiki später das parlamentarische System in Russland endgültig ab. Es stellen sich die Fragen:

Kann sich Lenin in "Staat und Revolution" zu Recht auf Karl Marx und Friedrich Engels berufen?

Gab es in Russland Voraussetzungen für eine proletarische Revolution?

Welche Geburtsfehler hatte das Sowjetsystems im „roten Oktober“?

 

Wieder einmal im Versteck

 

Am 19. Juli hatte die Provisorische Regierung die Verhaftung Lenins verfügt. Vorgeworfen wurde ihm und anderen führenden Bolschewiki, die Organisation der Demonstrationen vom 16. und 17. Juli sowie die Absicht, die Provisorische Regierung zu stürzen. In der öffentlichen Meinung machten obendrein Lenin und den Bolschewiki Vorwürfe der Kollaboration mit Deutschland zu schaffen. Lenin sei ein Agent der Deutschen. Die Propaganda für einen Separatfrieden mit Deutschland würde mit deutschen Geldern finanziert.

Nach anfänglichem Zögern entschloss sich Lenin zu fliehen. Kurz darauf wurde seine Wohnung durchsucht, seine Frau Krupskaja sowie seine Schwester Anna und ihr Mann verhaftet, nach einem Tag jedoch wieder frei gelassen. Die gegen die Bolschewiki gerichtete öffentliche Stimmung änderte sich erst wieder nach der Kornilow-Affäre, um die es in der letzten Sendung ging.

Lenin wurde zusammen mit Sinowjew mit Hilfe seiner Mitsteiter in einem entfernt gelegenen, nur schwer per Bahn, Boot und zu Fuß erreichbaren Heuschober versteckt. Besuch aus Petersburg, überschüttete er mit Fragen. Es war obwohl Sommer sehr kalt. Die beiden – Lenin und Sinowjew – wurden von Petersburg aus mit Lebensmitteln und Zeitungen versorgt. Shub schildert in seiner Biografie wie Lenin Zeitungen las, sich Randnotizen machte und, einen Baumstumpf als Tisch benutzend, seine Broschüren zur Frage der Staatsgewalt schrieb. Hier machte er auch seine Notizen zu Staat und Revolution.

„on s’engage et puis on voit“ Lenin zitierte gerne Napoleons Maxime, die perfekt seine eigene revolutionäre Philosophie ausdrückte: dass nämlich Revolutionen nicht von selbst entstehen, sondern von ihren Führern gemacht werden müssen. (...) Nur wenige historische Ereignisse der Moderne vermögen besser die entscheidende Wirkung eines eizelnen Menschen auf den Lauf der Geschichte zu illustrieren. Ohne Lenins Intervention wäre die Oktoberrevolution vermutlich niemals geschehen – und die Geschichte des 20. Jahrhunderts wäre ganz anders verlaufen, bemerkt Orlando Figes, S. 482.

Wie so oft war Lenin wieder mal nicht am Ort der Ereignisse, sondern versteckt, weit ab vom eigentlichen Geschehen, aber wie immer gut informiert und in Verbindung mit den Akteuren in Petersburg. Dass Lenin diese Rolle spielen konnte, hing natürlich eng mit seiner Fähgkeit und Möglichkeit zusammen, Fragen der Revolution, ihrer Ziele und ihres Fortgangs theoretisch zu durchdringen, ja zu konzipieren. Die kommenden Ereignisse waren in der Praxis stark gepägt von Lenins Theorie zu Staat und Revolution, aber auch von ihren Schwächen.

Es ist natürlich schwierig, eine über 100 Seiten lange Schrift mit sehr komplexen Inhalten und sehr vielen Klassiker-Zitaten von Marx und Engels in einer einstündigen Radio-Sendung wiederzugeben; es kann nur eine Auswahl und eine Konzentration auf einige Kernaussagen aus Lenins Schrift „Staat und Revolutiuon“ geben:

Ausgehend von Karls Marx Analyse unversöhnlicher Klassengegensätze von Kapital und Arbeit, übernimmt Lenin die Kritik der Klassiker an der parlamentarischen Demokratie als ein Instrument der Herrschaft der Bourgeoisie. In „Staat und Revolution“ geht es im Wesentlichen um die Begründung der „Diktatur des Proletariats“ als sich an die Revolution anschließende Staatsform. Karl Marx und Friedrich Engels besaßen bei den russischen Revolutionären, nicht nur bei den Bolschewiki, eine unangefochtene Autorität. Es war daher wichtig für Lenin, sich bei der Ausarbeitung seiner Theorie auf diese zu stützen. Dies erforderte ein umfangreiches Studium der damals zugänglichen Schriften von Marx und Engels, denn dieser Begriff der „Diktatur des Proletariats“ taucht bei beiden nur selten auf. Lenin stützt sich dabei vor allem auf das Manifest der kommunistischen Partei von 1848 und andere die frühe Schriften der 1840er und 1850er Jahre, sowie Schriften zur Pariser Kommune, wie Der Bürgerkrieg in Frankreich von 1871.

 

Lenins Kritik an der bürgerlichen „demokratischen Republik“

 

Lenin formuliert seine Kritik an der demokratischen Republik: „Wir sind für die demokratische Republik als die für das Proletariat unter dem Kapitalismus beste Staatsform, aber wir dürfen nicht vergessen, daß auch in der allerdemokratischsten bürgerlichen Republik Lohnsklaverei das Los des Volkes ist. Ferner. Jedweder Staat ist „eine besondere Repressionsgewalt“ gegen die unterdrückte Klasse.“ 1)

Daran helfe auch das allgemeine Stimmrecht nichts: „Es muss hervorgehoben werden, dass Engels mit großer Entschiedenheit das allgemeine Stimmrecht als Werkzeug der Bourgeoisie bezeichnet.“

Nun muss hier angemerkt werden, dass diese Aussage von Engels mehr grundsätzlicher Natur ist, denn im 19. Jahrhundert war das allgemeine Stimmrecht in keinem der europäischen Stataten verwirklicht. Es war in Deutschland erst das Ergebnis der Novemberrevolution von 1918 und hatte in Russland überhaupt noch keine Anwendung gefunden. 

Nach Lenin war der erste Schritt in der Arbeiterrevolution die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse und damit die Erkämpfung der wirklichen Demokratie. Er zitiert aus dem Manifest der Kommunistischen Partei von Karl Marx und Friedrich Engels aus dem jahr 1848:

„Das Proletariat werde seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staates, d.h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren.“

Hierin sieht Lenin die Idee der „Diktatur des Proletariats“ formuliert, nämlich: „Der Staat, das heißt das als herrschende Klasse organisierte Proletariat.“ 2)

Im weiteren zitiert er Engels aus dem sogenannten, „Anti-Dühring“:

 

„Der erste Akt , worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt – , ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiet nach dem anderen überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht ‚abgeschafft’, er stirbt ab.“

 

Lenin: Eine gewaltsame Revolution ist unvermeidlich

 

Um dort jedoch hin zu kommen sei eine gewaltsame Revolution unvermeidlich. Denn der bürgerliche Staat, könne nicht ohne weiteres durch den proletarischen Staat, den Lenin mit der „Diktatur des Proletariats“ gleichsetzt, auf dem Wege des „Absterbens“ abgelöst werden, sondern nur durch den gewaltsamen Akt einer Revolution. Mit diesen Auffassungen bezieht sich Lenin wieder auf Schriften von Marx und Engels, vor allem auf das Manifest und die Kritik des Gothaer Programms.

Er resümiert:

 

„Die Ablösung des bürgerlichen Staates durch den proletarischen ist ohne gewaltsame Revolution unmöglich. Die Aufhebung des proletarischen Staates, d.h. die Aufhebung jeglichen Staates, ist nicht anders möglich als auf dem Wege des ,Absterbens’“. 3)

 

Die Diktatur des Proletariats als „Machtorganisation“ zur Unterdrückung der Bourgeoisie

 

Zum Wesen des Staats führt Lenin weiter aus:

 

„Der Staat ist eine besondere Machtorganisation, eine Organisation der Gewalt zur Unterdrückung einer Klasse. Welche Klasse aber muß vom Proletariat unterdrückt werden? Natürlich nur die Ausbeuterklasse, d.h. die Bourgeoisie. Die Werktätigen brauchen den Staat nur, um den Widerstand der Ausbeuter niederzuhalten, aber dieses Niederhalten zu leiten, in die Tat umzusetzen ist allein das Proletariat imstande als die einzige konsequent revolutionäre Klasse, als einzige Klasse, die fähig ist, alle Werktätigen und Ausgebeuteten im Kampf gegen die Bourgeoisie, im Kampf um deren völlige Beseitigung zu vereinigen.

Die ausbeutenden Klassen bedürfen der politischen Herrschaft im Interesse der Aufrechterhaltung der Ausbeutung, d.h. im eigennützigen Interesse einer verschwindend kleinen Minderheit gegen die ungeheure Mehrheit des Volkes. Die ausgebeuteten Klassen bedürfen der politischen Herrschaft im Interesse der völligen Aufhebung jeder Ausbeutung, d.h. im Interesse der ungeheuren Mehrheit des Volkes gegen die verschwindend kleine Minderheit der modernen Sklavenhalter, d.h. der Gutsbesitzer und Kapitalisten.“ 4)

 

Daher führe die Lehre vom Klassenkampf, von Marx auf die Frage des Staates und der sozialistischen Revolution angewandt, notwendig zur Anerkennung der politischen Herrschaft des Proletariats, seiner Diktatur,

 

„d.h. einer mit niemand geteilten und sich unmittelbar auf die bewaffnete Gewalt der Massen stützenden Macht. Der Sturz der Bourgeoisie ist nur zu verwirklichen durch die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die fähig ist, den unvermeidlichen, verzweifelten Widerstand der Bourgeoisie niederzuhalten und für die Neuordnung der Wirtschaft alle werktätigen und ausgebeuteten Massen zu organisieren.

Das Proletariat braucht die Staatsgewalt, eine zentralisierte Organisation der Macht, eine Organisation der Gewalt sowohl zur Unterdrückung des Widerstands der Ausbeuter als auch zur Leitung der ungeheuren Masse der Bevölkerung, der Bauernschaft, des Kleinbürgertums, der Halbproletarier, um die sozialistische Wirtschaft ,in Gang zu bringen’“.

 

Das Proletariat als „weltlicher Heiland“

 

Es stellt sich hier die Frage nach den Voraussetzungen der „proletarischen Revolution“. Dem Proletariat als Klasse kommt in dieser Theorie eine geradezu messianische Befreierrolle zu. Diese Rolle als „weltlicher Heiland“ wie sich der Autor Michael Schneider in seinem nicht lange nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erschienen Buch „Das Ende eines Jahrhundertmythos“ ausdrückt, ist im Denken von Karl Marx durchaus verankert. Es ist der Teil der Marxschen Lehre, der uns heute eher antiquiert anmutet – kennen wir doch ein „Proletariat“ von dem hier die Rede ist, so nicht mehr und die Frage ist, ob es in dieser Weise überhaupt jemals existiert hat. Anders als die ökonomischen Arbeiten von Karl Marx, seine Analyse der kapitalistischen Warenproduktion, hält die Lehre von der „historischen Mission des Proletariats“, einer wissenschaftlichen Betrachtung nicht stand. Eine soziologisch definierte Klasse wird hier unbeachtet ihrer subjektiven Verfassung, ihrer persönlichen Ziele als auch ihrer historischen und kulturellen Prägungen zur Vorreiterin der Revolution erklärt – das kann nicht gut gehen, das muss letztendlich zur Überforderung der mit der „historischen Mission“ bedachten Individuen führen.

 

Marx und Engels bezogen sich auf Westeuropa

 

Dazu kommt, dass Marx und Engels ihre Theorie ausdrücklich auf die westeuropäischen Länder bezogen. Über die „asiatischen Produktionsweisen“, die „orientalische Despotie“ hat sich Marx zwar in seinen Grundrissen der politischen Ökonomie am Rande geäußert. Die Arbeiten wurden aber erst nach Lenins Zeit veröffentlicht und in der späteren SU nicht thematisiert. Auch den Brief von Karl Marx an die russische Revolutionärin Vera Sassulitsch, die 1881 wissen wollte, wie er die Möglichkeiten einer Revolution im bäuerlich geprägten Russland einschätze, dürfte er nicht gekannt haben. In seinerAntwort wies Marx darauf hin, dass sein Werk keinerlei Beweise für oder gegen die Lebensfähigkeit der Dorfgemeinde enthalte, aber das Spezialstudium, das er darüber getrieben habe, habe ihn überzeugt, dass diese "Dorfgemeinde der Stützpunkt der sozialen Wiedergeburt Russlands sei.“ 5) – Also eine der Theorie Lenins von der Rolle des Proletariats in der russischen Revolution geradzu entgegesetzte These.

Michael Schneider führt hierzu weiter aus: „Geblendet vom Schein der zaristischen Industrialisierung, die sich indes auf wenige Großstädte wie Petersburg, Moskau, Riga, Odessa beschränkte, unterstellte Lenin die Dominanz des Kapitalverhältnisses nicht nur in den wenigen Großstädten Rußlands, sondern auch zunehmend auf dem Lande. Aus dem allmählichen Vordringen der Warenproduktion und der Lohnarbeit auf dem russischen Dorf schloß er verfrüht auf eine kapitalistische, d. h. um des Mehrwerts willen produzierende Klasse, innerhalb der Bauernschaft. In Wirklichkeit gab es weder eine moderne und durchsetzungsfähige Bourgeoisie, die ihre ,historische Mission’ der Kapitalakkumulation hätte erfüllen können, noch eine gesellschaftlich dominierende Lohnarbeiterklasse, weder in der Stadt, noch auf dem Lande.“ 6)

Dessen ungeachtet führt Lenin weiter aus:

 

„Den Marxismus auf die Lehre vom Klassenkampf beschränken heißt den Marxismus stutzen, ihn entstellen, ihn auf das reduzieren, was für die Bourgeoisie annehmbar ist. Ein Marxist ist nur, wer die Anerkennung des Klassenkampfes auf die Anerkennung der Diktatur des Proletariats erstreckt. Hierin besteht der tiefste Unterschied des Marxisten vom durchschnittlichen Klein- (und auch Groß-) Bourgeois. Das muß der Prüfstein für das wirkliche Verstehen und Anerkennen des Marxismus sein.

Weiter. Das Wesen der Marxschen Lehre vom Staat hat nur erfaßt, wer begriffen hat, daß die Diktatur einer Klasse nicht nur schlechthin für jede Klassengesellschaft notwendig ist, nicht nur für das Proletariat, das die Bourgeoisie gestürzt hat, sondern auch für die ganze historische Periode, die den Kapitalismus von der ,klassenlosen Gesellschaft', vom Kommunismus, trennt. Die Formen der bürgerlichen Staaten sind außerordentlich mannigfaltig, ihr Wesen ist aber ein und dasselbe: Alle diese Staaten sind so oder so, aber in letzter Konsequenz unbedingt eine Diktatur der Bourgeoisie. Der Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus muß natürlich eine ungeheure Fülle und Mannigfaltigkeit der politischen Formen hervorbringen, aber das Wesentliche wird dabei unbedingt das eine sein: die Diktatur des Proletariats.“ 7)

 

Wodurch will Lenin die herkömmliche Staatsmaschinerie zu ersetzen?

 

Lenin stützt sich hier auf Marxens Schrift „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ von 1871 über die Erfahrungen und das blutige Ende der Pariser Kommune. Was Marx hier wohlwollend und beispielhaft über die Organisation des öffentlichen Lebens durch die Pariser Kommnarden schildert, wird bei Lenin allerdings zur strikten Handlungsanweisung durch die unastastbare Autorität des Schöpfers des Marxismus:

„Die Kommune“, habe Marx geschrieben, „sollte nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit ...

Statt einmal in drei oder sechs Jahren zu entscheiden, welches Mitglied der herrschenden Klasse das Volk im Parlament ver- und zertreten soll, sollte das allgemeine Stimmrecht dem in Kommunen konstituierten Volk dienen, wie das individuelle Stimmrecht jedem andern Arbeitgeber dazu dient, Arbeiter, Aufseher und Buchhalter in seinem Geschäft auszusuchen. 8)

Lenin fordert:

 

„Die uneingeschränkte Wählbarkeit und die jederzeitige Absetzbarkeit ausnahmslos aller beamteten Personen, die Reduzierung ihrer Gehälter auf den gewöhnlichen ,Arbeiterlohn’“, diese wie er meint „einfachen und ,selbstverständlichen’ demokratischen Maßnahmen, bei denen sich die Interessen der Arbeiter völlig mit denen der Mehrheit der Bauern decken, dienen gleichzeitig als Brücke, die vom Kapitalismus zum Sozialismus führt. Diese Maßnahmen betreffen die staatliche, rein politische Umgestaltung der Gesellschaft, aber sie bekommen vollen Sinn und Bedeutung selbstverständlich erst im Zusammenhang mit der in Verwirklichung oder Vorbereitung begriffenen ,Expropriation der Expropriateure', d.h. mit dem Übergang des kapitalistischen Privateigentums an den Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigentum.“ 9)

 

Und weiter:

 

„Der Ausweg aus dem Parlamentarismus ist natürlich nicht in der Aufhebung der Vertretungskörperschaften und der Wählbarkeit zu suchen, sondern in der Umwandlung der Vertretungskörperschaften aus Schwatzbuden in ,arbeitende’ Körperschaften. ,Die Kommune sollte (Lenin zitiert hier Marx. Red. Anm.) nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit ...’“ 10)

 

Klare Absage an die Gewaltenteilung und Lohndifferenzierung

 

Die klare Absage an eine Gewaltenteilung, die heute als unbestrittenes Element demokratischer Verfassungen gilt, begründet Lenin im Weiteren:

Den korrupten und verfaulten Parlamentarismus in der bürgerlichen Gesellschaft habe die Kommune durch Körperschaften ersetzt, in denen die Freiheit des Urteils und der Beratung nicht in Betrug ausarte, denn die Parlamentarier müssten selbst arbeiten, selbst ihre Gesetze ausführen, selbst kontrollieren, was bei der Durchführung herauskommt, selbst unmittelbar vor ihren Wählern die Verantwortung tragen.

 

„Die Vertretungskörperschaften bleiben, aber den Parlamentarismus als besonderes System, als Trennung der gesetzgebenden von der vollziehenden Tätigkeit, als Vorzugsstellung für Abgeordnete gibt es hier nicht. Ohne Vertretungskörperschaften können wir uns eine Demokratie nicht denken, auch die proletarische Demokratie nicht; ohne Parlamentarismus können und müssen wir sie uns denken, soll die Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft für uns nicht ein leeres Gerede sein, soll das Streben nach dem Sturz der Herrschaft der Bourgeoisie aufrichtig und ernst gemeint und nicht eine ,Wahl’parole sein, um Arbeiterstimmen zu fangen, wie es bei den Menschewiki und Sozialrevolutionären, den Scheidemann und Legien, den Sembat und Vandervelde der Fall ist.“ 11)

 

Aber unterzuordnen habe man sich der bewaffneten Avantgarde aller Ausgebeuteten und Werktätigen – dem Proletariat.

 

„Die spezifische ,Vorgesetztenrolle’ der Staatsbeamten kann und muß man sofort, von heute auf morgen, durch die einfachen Funktionen von ,Aufsehern und Buchhaltern’ zu ersetzen beginnen, Funktionen, denen der heutige Städter bei seinem Entwicklungsniveau im allgemeinen schon vollauf gewachsen ist und die für einen ,Arbeiterlohn’ durchaus ausführbar sind.

Organisieren wir Arbeiter selber die Großproduktion, davon ausgehend, was der Kapitalismus bereits geschaffen hat, auf unsere Arbeitererfahrung gestützt, mit Hilfe strengster, eiserner Disziplin, die von der Staatsgewalt der bewaffneten Arbeiter aufrechterhalten wird; machen wir die Staatsbeamten zu einfachen Vollstreckern unserer Aufträge, zu verantwortlichen, absetzbaren, bescheiden bezahlten ,Aufsehern und Buchhaltern’ (dazu natürlich Techniker jeder Art, jeden Ranges und Grades) – das ist unsere proletarische Aufgabe, damit kann und muß man bei der Durchführung der proletarischen Revolution beginnen.“ 12)

 

Das Beispiel der Pariser Kommune wird zum Dogma

 

Wie gesagt, diesen Passagen liegt Marx’ Beschreibung der Organisation der öffentlichen Ordnung in der Pariser Kommune 1871 zugrunde. Lenin hat sie auch auf den Arbeitsprozess und die Rolle der Techniker bezogen. Das, was Marx über Vorgehensweisen in der Kommune berichtet, hat Lenin als handlungsanweisendes Dogma für die russische Revolution kanonisiert. Der blutig niedergeschlagenen Kommune war es nicht vergönnt, ihre Prinzipien auf den Prüfstand der Praxis zu stellen. Das war im nachrevolutionären Russland anders und wir ahnen, dass hier einige Weichen für die spätere gesellschaftliche Entwicklung falsch gestellt wurden. So die Unterbewertung qualifizierter Arbeit, die, nebenbei gesagt, in Konflikt zur marxistischen Arbeitswerttheorie stehen dürfte, und die Konzentration von Kompetenzen und Privilegien bei den Arbeiter- beziehungsweise Parteifunktionären, die mit großer Machtfülle ausgestattet, letztlich sich selbst kontollierten.

 

Einparteiensystem setzt sich durch

 

Zum Schluss wollen wir noch den Marburger Politikwissenaftler Frank Deppe mit seinem frisch ausgepackten Werk „1917 / 2017 Revolution & Gegenrevolution“ zu Wort kommen lassen.

Deppe sieht Lenin als Verfechter des Rätesystems. Allerdings habe er sich in „Staat und Revolution“ nicht über die Rolle der Parteien im Rätesystem geäußert. „In den sogenannten Frankreich-Schriften von Marx kam die proletarische Partei, wie sie sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts etabliert hatte, überhaupt nicht vor. Vielleicht teilte Lenin die Auffassung von anderen Theoretikern des Rätesystems, nach der sich mit der Etablierung der Räteverfassung die Aufgaben der Parteien gleichsam erschöpft haben und diese überflüssig geworden sind. Die Räteordnung würde den Parlamentarismus, damit auch die Parteien, überflüssig machen – zumal die bürgerlichen Parteien mit der Aufhebnung des Privateigentums ohnehin verschwinden würden (...)

Die Rätedemokratie war als Modell einer ,direkten’ (im Unterschied zur repräsentativen) Demokratie konzipiert, in der die Trennung von Wählern und Gewählten, aber auch die Trennung von Legislative und Exekutive aufgehoben werden sollte. Die Wähler sind Basiseinheiten organisiert (in Betrieben, Gemeinden, Stadtteilen, Armeeeinheiten usw.). Sie wählen Räte, die die Funktionen der Gesetzgebung, ihrer Ausführung sowie der Gerichtsbarkeit als Einheit wahrnehmen. Auf den Basisorgansationen baut ein System von Räten auf den höheren Ebenen (...) auf.

Solche Räte hatten in allen Revolutionen der Neuzeit als spontan gebildete Organe der revolutionären Volksmassen eine Rolle gespielt. Gleichwohl gab es am Ende des Ersten Weltkrieges (...) keine Erfahrungen mit einer halbwegs funktionierenden Räteverfassung. In den Räten spiegelten sich zugleich die widersprüchlichen Interessen der verschiedenen sozialen Gruppen, der Berufsgruppen und der ideologischen Strömungen. Gleichzeitig wurde immer wieder der Widerspruch zwischen der basisdemokratischen Organisation und der Notwendigkeit zentraler Entscheidungen im revolutionären Prozess selbst zum Problem (...)

Auf jeden Fall widersprach der Verlauf der Oktoberrevolution dieser Vorstellung radikal; denn schließlich wurde mit der ,Diktatur des Proletariats’ ein Einparteiensystem durchgesetzt, das mit dem Staatsapparat verschmolzen und den Räten übergeordnet war. Die Partei (zeitweilig ihr Führer) wurde schließlich zum neuen Gott der sozialistischen Ordnung.“ 13)

 

Lenin – mehr sozialrevolutionärer Utopist als historischer Materialist

 

Zum Schluss möchten wir Michael Schneider mit seiner Einschätzung Lenins und seiner politischen Theorie zu Wort kommen lassen:

„Lenin war gewiß kein historischer Materialist, sondern ein sozialrevolutionärer Voluntarist, ja, Utopist. Innherhalb dieses voluntaristischen Konzepts aber agierte der revolutionäre Taktiker und Stratege Lenin mit einer einzigartigen Souveränität, Entschiedenheit, Wendigkeit und Klugheit wie kaum ein marxistischer Führer dieses Jahrhunderts. Der Webfehler seines Konzeptes indessen sollte erst nach dem Oktobersieg und dem Bürgerkrieg zutage treten, als Lenin und viele seiner Mitstreiter mit Bestürzung registrierten, daß sie zwar die Gutsbesitzer und Bourgeois davongejagt hatten, daß an die Stelle der alten zaristischen jedoch nur eine neue, ,ganz leicht mit Sowjetöl gesalbte’ (Lenin) Bürokratie getreten war, ohne die das Riesenreich nicht zusammenzuhalten und seine zersplitterten Bauernwirtschaften nicht zu verwalten waren.“

 

Literatur:

1) W. I. Lenin, Staat und Revolution, in: W.I. Lenin, Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Band III, Berlin 1989, S. 481.

2) Lenin, s.o., S. 485.

3) Lenin, s.o., S. 484.

4) Lenin, s.o. S. 486.

5) Marx Engels Werke (MEW), Bd. 19, S. 242 f.

6) Michael Schneider, Das Ende eines Jahrhundertmythos, Köln 1996, S. 104.

7) Lenin, s.o., S. 496 f.

8) Lenin, s.o., S. 507.

9) Lenin, s.o., S. 506.

10) Lenin, s.o., S. 508.

11) Lenin, s.o., S. 510.

12) Lenin, s.o., S. 511 ff.

13) Frank Deppe, 1917 /2017 – Revolution und Gegenrevolution, Hamburg 2017, S. 80 f.

14) Schneider, s.o., S. 105.

 

© Brigitte Forßbohm, Michael Forßbohm, Herderstr. 31, 65185 Wiesbaden, Tel (06 11) 30 94 33, info@brigitteforssbohm.de