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Europa zu Jahresbeginn 2016

Am Beginn des Jahres 2015 stand das Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt in Paris, Anschläge in einer europäischen Metropole mit islamistischem Hintergrund, die sich sowohl gegen Presse- und Meinungsfreiheit als auch gegen kulturelle und religiöse Vielfalt richteten. Am 13. Juli erlebten wir wie die linke griechische Syriza-Regierung mit der Durchsetzung eines EU-Memorandums in die Knie gezwungen wurde, ein Staatsstreich, indem die EZB die Schließung der griechischen Banken erzwang, und drohte, diese nicht wieder zu öffnen, bis die Regierung das EU-Memorandum unterschrieben habe. (Aufruf „Ein Plan B für Europa“) Ein Memorandum, das die griechische Wirtschaft weiter strangulieren würde, die exorbitante Arbeitslosigkeit und Jugendarbeitslosigkeit festschrieb, die Nation in die wirtschaftliche und soziale Perspektivlosigkeit schickte.

Bürgerkrieg und Attentate

In weiten Teilen Syriens und des Irak herrscht der IS. Der Bürgerkrieg und die diversen militärischen Einmischungen anderer Staaten haben Syrien ins Elend gestürzt und teilweise unbewohnbar gemacht. Millionen Flüchtlinge suchen nun Schutz und Perspektive in Europa. In Deutschland werden sie größtenteils Willkommen geheißen, ein kleiner Teil der Deutschen radikalisiert sich jedoch, zündet Gebäude an, in denen Flüchtlinge untergebracht werden sollen, und ergeht sich in fremdenfeindlichen Äußerungen, Hass-Kommentaren und anderen Formen nationalen Chauvinismus.

Europa franst aus an den Rändern, wo sich wie in Ungarn und Polen autoritäre, europafeindliche Regierungen etablieren konnten. Auch in den wohlhabenden nordischen Ländern mit kleinen Bevölkerungen wie Finnland, Norwegen und Dänemark gewinnt europafeindliche Politik an Boden. Besonders enttäuschend das kleine, ehemals liberale und sozialpolitisch gut aufgestellte Dänemark, das gerade Schlagzeilen macht mit seiner zynischen Abschreckung von Flüchtlingen und dem Schließen seiner Grenzen.

Am Freitag, den 13. November geschah das entsetzliche Attentat in Paris mit fast 150 Opfern, wieder mit irgendwie islamistischem Hintergrund, diesmal aber diffus und ohne erkennbare politische Zielsetzung. Trotz aller Beteuerungen sich durch den brutalen Terror nicht von der eigenen Lebensweise abbringen zu lassen – in Wiesbaden mag das einigermaßen funktioniert haben – dennoch: abgesagte Fußballspiele, kein Feuerwerk in Brüssel, Terrorwarnung an Sylvester in München, Ausnahmezustand in Frankreich, ständige Polizei- und Militärpräsenz – da ist es nicht einfach, Normalität zu leben. Denkt man an all dies, fällt es schwer, mit Optimismus auf das Jahr 2016 zu blicken. Es begann dann auch mit einem ungeheuerlichen Akt staatlichen Terrors in Saudi-Arabien, wo am 2.1. 47 Menschen hingerichtet wurden. Saudi-Arabien, von der deutschen Bundesregierung als „Stabilitätsanker“ im Nahen Osten hofiert, von Frank-Walter Steinmeier noch am 25.12.15 in ZEIT-online als "muslimische Führungsmacht" bezeichnet, der eine Schlüsselrolle im Kampf gegen den IS zukomme. Auch Frankreich pflegt enge Beziehungen zu den Saudis und verkauft ihnen reichlich Waffen. Die Hinrichtungen hat die französische Regierung „wortkarg bedauert“ (Le Monde) und nicht mal den Namen des schiitischen Geistlichen Nimr al Nimr genannt. Dabei dürfte gerade der Export des Wahabismus in den mit saudischem Geld gebauten Moscheen durch die mitgelieferten Hassprediger seinen Anteil an der Rekrutierung von Jugendlichen in Europa für den IS haben. „Anti-Terror-Kampf“ mit der staatlichen Blaupause zum IS? – Das kann ja wohl nichts werden. Es wird auch nichts aus einem Anti-Terror-Kampf mit noch mehr Bomben auf Syrien, wo es nicht an Kriegsgerät und Sprengstoff mangelt, sondern an Zielen. In den syrischen Städten kann man die Standorte der IS-Kämpfer doch nur vermuten und nimmt mit weiteren Bombardements weitere zivile Opfer in Kauf.

 

Die Attentäter kommen aus Europa

Halten wir fest: Die Attentäter kommen aus Europa, aus St. Denis und Meulenbeek.

Im September 2014 besuchte ich selber St. Denis, nicht um soziale Studien zu treiben, sondern um die Kathedrale, die Grablege der französischen Könige, zu besichtigen. Die Atmosphäre in diesem Ort empfand ich als verstörend. So etwas habe ich in Deutschland als auch bei meinen häufigen Frankreichaufenthalten noch nicht erlebt. Ich fühlte plötzlich Verständnis für das französische Verbot der Vollverschleierung, denn all diese schwarz gewandeten Frauen hätten mit Sicherheit den Gesichtsschleier getragen, wäre es denn erlaubt. Der Markt wird dominiert von Koran-Verkäufern, nur um die Kathedrale herum Restaurants und Cafés, der öffentliche Raum ansonsten lieblos vernachlässigt, das öffentliche Leben weitgehend erstorben. Ich bin an sich nicht besonders ängstlich und bewege mich auch immer mal wieder nachts in Städten und Bahnhöfen, aber hier fühlte ich mich am helllichten Tage verunsichert und machte mich davon.

Statt in Syrien Bomben abzuwerfen, wäre es wohl zielführender sich um solche Stadtteile zu kümmern, denn Meulenbeek sieht nach den Schilderungen ähnlich aus. Ausgrenzung, Zurückweisung, Perspektivlosigkeit, massive Jugendarbeitslosigkeit, das Ersterben des Öffentlichen, da fallen die Botschaften der von den Saudis gesponserten Dschihad-Prediger auf fruchtbaren Boden. François Hollande sprach nach dem Bataclan-Attentat von „Krieg“. Haben die Selbstmord-Attentate sehr junger Menschen jedoch nicht mehr den Charakter von – politisch instrumentalisierten – Amokläufen? Sollte der Blick nicht auf die Gesellschaften gerichtet werden, die sie hervorbringen? Leider scheint die französische Gesellschaft zur Zeit mit noch mehr Misstrauen, noch mehr Ausgrenzung und Ablehnung gegenüber den Einwanderern zu reagieren.

 

Stabile Demokratien in Südeuropa

Die südeuropäischen Staaten Portugal, Spanien und Griechenland erwiesen sich trotz wirtschaftlicher Schwierigkeiten als stabile Demokratien, mit linken Regierungs-perspektiven.

Das linke Syriza-Bündnis konnte sich behaupten, trotz des von der Troika aufgezwungenen Memorandums. Die Griechen hatten zwar bei der Volksbefragung gegen das EU-Memorandum mit einer überwältigenden Mehrheit für das „Oxi“ (Nein) gestimmt, wollten aber gleichzeitig einen Verbleib in der EU und in der Währungsunion (EWU). Für einen Austritt aus EWU und EU hatte die Regierung Tsipras kein Mandat. Mit der Unterschrift unter das Memorandum wendete sie den Staatsbankrott Griechenlands erstmal ab, bürdete dem Land jedoch eine kaum zu bewältigende Schuldenlast auf und stellte es unter die Vorherrschaft der Troika.

 

Die Linke und die „Kapitulation“ von Syriza

Obwohl klar war, dass die Syriza-Regierung sich in einer ausweglosen Situation befand, gingen Teile der Linken* in Deutschland und in Europa danach auf Distanz zu Tsipras und Syriza. Die LINKE-Bundestagsfraktion hatte mit nur zwei Enthaltungen gegen weitere Kredite für Griechenland gestimmt; Stimmen, die sich eigentlich nicht gegen Kredite als solche, sondern gegen die Bedingungen richteten, unter denen sie gewährt wurden, gegen das mit ihnen verbundene „Austeritätsprogramm“ und die „Erpressung“ Griechenlands durch die EU.

Janine Wissler und Nicole Gohlke rechneten im ND (23.07.15) mit der Syriza-Regierung scharf ab und forderten eine Diskussion über einen „Grexit“ beziehungsweise einen „Plan B“, das heißt den Austritt Griechenlands und anderer EU-Staaten aus der EWU als bessere Alternative. Tsipras warfen sie vor, „kapituliert“ zu haben. Der Verbleib im Euro zwinge die Syriza-Regierung zum ausführenden Organ“ der „Diktatur der Troika“ zu werden. 1

Die LINKE Bundestagsabgeordnete Christine Buchholz stellte mit dem Frankfurter Altlinken Volkhard Mosler (Marx 21) am 28.8.2015 im ND das „Scheitern des linken Reformismus“ fest. Als „revolutionäre Sozialistinnen und Sozialisten“ – wie sie sich selbst bezeichnen – seien sie von der „Regierung Tsipras enttäuscht“ worden. Deren „Linker Reformismus“ werde nun gar zum „Hemmschuh für soziale Bewegungen“, ja die „Kapitulation der Syriza-Führung“ berge die „Gefahr der Demoralisierung der Massen“ und eines Rechtsrucks. Eine Unterstützung Syrizas durch die deutsche LINKE lehnten sie ausdrücklich ab: „Wir kritisieren die Aussage von Gregor Gysi, Katja Kipping und Bernd Riexinger, die am Tag nach dem Rücktritt von Alexis Tsipras erklärt haben, „DIE LINKE in Deutschland unterstützt Alexis Tsipras mit allen Kräften dabei, erneut eine Mehrheit für eine linke Regierung in Griechenland zu erringen.“ 2

Gregor Gysi hatte sich hingegen nicht davon abhalten lassen, nach Athen zu fahren und Alexis Tsipras in seinem Wahlkampf persönlich zu unterstützen. Entgegen den Unkenrufen aus Kreisen der deutschen Linken gewann Syriza, wenn auch mit gewissen Einbußen – eindeutig die Wahl und konnte wieder regieren. Die abgespaltene Gruppe Laiki Enotita (Volkseinheit) mit der vorherigen Parlamentspräsidentin Zoi Konstantopoulo und dem vorherigen Energieminister Panagiotis Lafanzanis hatte sich bedauerlicherweise ins politische Abseits manövriert und erreichte nicht genug Stimmen, um ins Parlament einzuziehen.

 

Plan B

Das Schicksal der Griechen und das Wirken der EU-Institutionen beschäftigt zu Recht nach wie vor die Gemüter. Im Nachhinein stellt sich die Frage: Hätte der Widerstand der griechischen Regierung gegen das Diktat der Troika nicht auch zu anderen Ergebnissen führen können, wenn es eine starke Bewegung der Solidarität für Griechenland in Deutschland und in Europa gegeben hätte, und wenn die Regierungen der Länder Frankreich, Italien und Spanien aus eigenem Interesse heraus imstande gewesen wären, Schäubles Linie zu verlassen? Während sich die griechische Regierung mit Schäuble und Co. abmühte, verblieben die Linken in Europa leider in der Zuschauerposition und leider hat, wie wir dank Yanis Varoufakis wissen, der französische Finanzminister nur „Geräusche“ gemacht ...

Dass die Phalanx der EU-Finanzminister und der Troika überhaupt nicht zu durchbrechen war, hatte man so nicht voraussehen können.

Es ist nicht belanglos, wer regiert, gerade in Anbetracht des Erstarkens rechter nationalistischer Bewegungen in Europa. Alexis Tsipras hat eine zweite Chance bekommen. Ob er sie wahrnehmen kann im Interesse derer, die in Griechenland unter den Oligarchen und den korrupten alten Eliten genauso litten wie sie von den Auflagen der Gläubiger betroffen sind, liegt nicht allein an Tsipras, sondern auch an den Linken in Europa. (Tom Strohschneider 3

Was den von der Laiki Enotita und durch den Aufruf von Oskar Lafontaine, Yanis Varoufakis, Zoi Konstantopoulo, Jean-Luc Mélènchon und Stefano Massina ins Spiel gebrachten „Ein Plan B für Europa“ als auch den in linken Kreisen diskutierten „Grexit“ betrifft, wäre zu bedenken, dass die politischen Rahmenbedingungen zur Zeit für einen Austritt aus der EWU die gleichen sind wie für den Verbleib. In Bezug auf Griechenland liegt hier das Gefährliche und Unkalkulierbare: Fehlende Solidarität und eine feindselige Haltung der EU-Regierungen sowie der Troika könnten den Austritt des Agrarlands Griechenland durchaus zum Desaster werden lassen. Varoufakis hatte das Grexit-Angebot, das Schäuble zu guter Letzt am Ende der Verhandlungen selber aus der Tasche zog, deshalb kritisch betrachtet. Ist die Idee des „Plan B“, des Austritt aus der EWU, zum jetzigen Zeitpunkt nicht eher der Wunsch nach einem Befreiungsschlag, gewissermaßen um das Schicksal zu überlisten – aber mit einem schwer zu kalkulierenden Risiko? – Die von den Initiatoren angekündigte Konferenz zu diesen Fragen, die im Dezember in Paris stattfinden sollte, musste wegen des Terroranschlags abgesagt werden.

 

Nationalismus in der EU

Nachdem die Regierung Orban in Ungarn sich mit ihrer Politik gegenüber Medien und Verfassung schon außerhalb der EU-Normen gestellt und die Grenzen geschlossen hat, kann man nun erleben wie in Polen die nationalistische Partei PiS einen antieuropäischen Kurs einschlägt und Organe, die in einer Demokratie die Aufgabe haben, Regierungshandeln kritisch zu begleiten, das Verfassungsgericht und die Medien, unter Kuratel stellt. Der österreichische Publizist Hannes Hofbauer spricht in diesem Zusammenhang von einer „Ethnisierung des Sozialen“ und gibt zu bedenken, dass „Weltoffenheit“ im EU-Kontext für vier kapitalistische Freiheiten steht: Ungehinderter Verkehr von Waren, Kapital, Dienstleistungen und Arbeitskraft. Davon profitieren ökonomisch starke Staaten. Das ungarische und polnische Pro-Kopf-Einkommen beträgt aber nur die Hälfte des deutschen, die Durchschnittslöhne liegen bei einem Drittel und die Stückkosten bei 40 % des deutschen Niveaus. „Handel, Industrie und Banken befinden sich in deutscher Hand. Umgekehrt wurde kaum ein Investor aus dem Osten auf dem deutschen Markt gesichtet.“ Brüssel steht für eine Politik, die dem Stärkeren zum Durchbruch verhilft. Dabei agieren PiS und Fidesz mit Wirtschafts- und Sozialprogrammen die links der europäischen Sozialdemokratien angesiedelt sind, wollen Mindestlohn und Sozialleistungen erhöhen und die Daseinsvorsorge rekommunalisieren. „Mit einem Satz: Diese Rechte setzt auf sozial- und wirtschaftspolitische Intervention.“ (Hofbauer) – Und besetzt damit das Politische an sich!

„Die Menschen in Osteuropa (und nicht nur dort) suchen Zuflucht im Nationalen, weil es die Rechte versteht, kollektiven Souveränitätsverlust unter diesem Paradigma zu thematisieren.“ (Hofbauer)

Dies ist auch der Boden auf dem die Front national der Marine Le Pen, Pegida und AfD gedeihen.

 

„Demokratie und Souveränität“ in der EU

Der linke Ökonom Paul Steinhardt, ein Vertreter des „Plan B“, verteidigt vor diesem Hintergrund Sahra Wagenknecht, die Ende August 2015 sich gegen die Ausweitung von EU-Kompetenzen in Wirtschafts-, Finanz, Haushalts- und Sozialpolitik aussprach. Sie befürchtet, „dass es immer mehr Integrationsschritte gibt, die jede nationale Souveränität erledigen“, dass damit „die Haushalts- und sogar die Lohnpolitik in den Mitgliedsstaaten von EU-Technokraten gesteuert werden soll“ und dass es bei Umsetzung dieser Reformen „letztlich keinen Raum mehr für demokratische Entscheidungen“ gibt. 4

Dies brachte ihr den Vorwurf „sozialnationalistischer“ Gesinnung ein (Gustav Horn). Stephan Hebel (FR) meinte, sie erwecke den Eindruck einer Rückkehr in die vermeintliche Geborgenheit des Gewesenen und dies sei „reaktionär“. 5

Demgegenüber weist Paul Steinhardt auf die Demokratie- und Legitimationsdefizite der EU hin und fragt nach dem Zusammenhang von „Demokratie und Souveränität“.

Er macht darauf aufmerksam, dass es in der EU „Präsidenten von Organen, wie etwa Jeroen Dijssselbloem von der sogenannten «Eurogruppe» gibt, die formal-rechtlich gar nicht existieren“, und dass „ad hoc gebildete Gremien, beispielsweise die so genannte Troika, gesetzgeberische Macht in formal souveränen Ländern ausüben, wie das z.B. sehr anschaulich in Griechenland demonstriert wurde.“

Er fragt, ob es mit demokratischen Spielregeln vereinbar sei, wenn ohne eine Volksabstimmung gesetzgeberische und exekutive Kompetenzen an supranationale Organisationen, wie etwa die Europäische Kommission, den Europäischen Rat und die Europäische Zentralbank, übertragen werden?

„Da diese EU-Organe zweifellos über politische Macht verfügen, aber die EU sicherlich nicht als ein Nationalstaat zu charakterisieren ist, stellt sich die Frage, wie Demokraten ein solches «großstaatliches» Konstrukt als einen politischen Fortschritt erachten können; ein Konstrukt, das sogar zulässt, dass die gewählten Vertreter des deutschen Volkes entgegen den Bestimmungen des Artikel 38 des Grundgesetzes nicht mehr über Gesetze beschließen, die für die Bürger ihres Landes gelten.“ (Steinhardt, ND 14.10.2015, 6

 

Die EU ist von neoliberalen, auf Austerität fixierten Kräften gewissermaßen „gekapert“ worden und basiert mittlerweile auf Vertragsrecht. Ihr fehlt die verfassungsmäßige Legitimation. Letztlich maßen sich Personen der Exekutive einzelner EU-Länder supranationale legislative Gewalt an. Dies widerspricht den nationalen Verfassungen, die angesichts des EU-Vertragsrechts immer mehr an Rechtskraft verlieren. Das kann nur funktionieren, weil die EU-Mitgliedstaaten dies akzeptieren.

Dass Sparprogramme, die Krisenstaaten wie Griechenland aufgezwungen wurden, gegen das einzige Verfassungsdokument der EU, die EU-Grundrechtscharta, verstoßen, zeigt eine Studie des gewerkschaftsnahen Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeitsrecht von Florian Rödl und Raphael Callsen. 7

Besonders betroffen sind die der EWU beigetretenen Länder. Sie verfügen über keine Zentralbank mehr, die sie anweisen könnten, Geld für demokratisch legitimierte Zwecke zu schaffen, es entscheiden also nicht mehr Bürger, sondern ausschließlich Banken und Portfoliomanager darüber, für welche Zwecke Ressourcen einer Gemeinschaft verwendet werden. Die nationale Souveränität wurde also durch die Souveränität der Finanzmärkte substituiert. Paul Steinhardt stellt daher die Frage, ob die EWU nicht als ein Herrschaftskonstrukt zu erachten ist, gegen das Demokraten grundgesetzkonformen Widerstand leisten sollten?

 

Perspektiven 2016

Wenn genug Menschen in Europa dies so sehen – und einige sind ja schon dabei – wird man dies auch ändern können und beispielsweise den Grundsatz durchsetzen: Keine EU-Verträge, die nationalen Verfassungen und der EU-Grundrechte-Charta widersprechen sowie die Aufhebung aller Verträge und Memoranden, die dies tun. Der unerwartet breite Wiederstand gegen die transatlantischen Verträge TTIP und CETA, lässt auf das politische Potential schließen, das auch für eine andere EU zu mobilisieren wäre.

Ganz auf dieser Linie liegt die Initiative von Yanis Varoufakis, am 9. Februar 2016 in Berlin ein Aktivisten-Netzwerk »DiEM 25« (Democracy in Europe Movement 2025) als „dritte Alternative“ zwischen Renationalisierungsirrweg und „anti-demokratischen EU-Institutionen“ zu gründen mit dem Ziel, die EU zu demokratisieren. Man wolle versuchen, „die Energie der pro-europäischen, radikalen Kritiker der Institutionen in Brüssel und Frankfurt“ zu bündeln, um einen „Zerfall der EU zu verhindern“, so der Ex-Minister. 8

In diesem Sinne sollte die LINKE gestaltend eingreifen und an einer neuen konstitutionellen Fundierung der EU arbeiten. Wir brauchen eine neue EU-Verfassung, die die Verträge von Maastricht und Lissabon und folgende ablöst, vor allem den Fiskalpakt und die Memoranden, die in die Souveränität der EU-Staaten eingreifen und selbst der EU-Grundrechte-Charta widersprechen.

Schluss mit der Austeritätspolitik, den Verschuldungsverboten, die wirtschaftlich schwächere Staaten in den Abgrund stürzen. In einer Währungsgemeinschaft muss es einen Ausgleich geben, die Möglichkeit günstiger Kreditaufnahme für wirtschaftliche und soziale Entwicklung, für eine EU, die Perspektiven bietet, in der Arbeitslosigkeit, vor allem Jugendarbeitslosigkeit, endlich der Vergangenheit angehören!

 

„Runter von der Zuschauertribüne!“

fordert der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der LINKEN im Bundestag, Klaus Ernst,  in einem Gastbeitrag der FR Ende November 2015. Die politische Achse habe sich nach rechts verschoben und „wir beobachten die Niederlagen unserer Genossinnen und Genossen von der Tribüne aus. So als ob wir nichts damit zu tun hätten. Wir kritisieren Gewerkschaften, weil uns Tarifabschlüsse zu weich sind. Wir kritisieren linke Regierungen, wenn sie Dinge tun, die nicht in unseren Programmen stehen. Wir kündigen Alexis Tsipras die Solidarität, weil er in die Knie gegangen ist. Ab er es sind unsere Niederlagen, die in einen Rechtsruck gemündet haben.“ Es gehe nicht darum, ob wir am radikalsten den Kapitalismus kritisieren. Es gehe um alles.

Er sieht die Debatte über die strategischen Perspektive der LINKEN zu lange aufgeschoben, eine Debatte, die das Gleichgewicht der Flügelkämpfer zerstören könne und die kuschelige linke Biedermeierwelt in Frage stelle. Aus der zufällig entstandenen rot-rot-grünen Mehrheit nach der Bundestagswahl 2013 habe die LINKE nichts gemacht. Sie hätte sich darüber verständigen sollen, „wo die Kompromisslinien genau verlaufen“, und die abverlangten Opfer an ihre ideologische Unversehrtheit abwägen sollen gegen mögliche Haltelinien gegen den europäischen Rechtsruck. „Heute ist es Zeit für eine neue Sammlungspolitik links von der Mitte. Ziel dieser Sammlung ist die Verteidigung einer Idee: der europäische Sozialstaat, die europäische Demokratie, der europäische Frieden.“ 9

Da kann ich nur zustimmen. Die LINKE liegt in Deutschland bei Umfragen bei um die 10%. Das ist nicht wenig, aber nicht genug, um alleine den Rechtsruck aufzuhalten und soziale Rechte zu verteidigen und auszubauen. Das können wir nur im Bündnis mit anderen, den DGB-Gewerkschaften, Sozialverbänden, Bürgerinitiativen aber auch den nach Veränderung strebenden Kräften in anderen Parteien.

Wenn die Bundesvorsitzende der Partei Bündnis 90/Die Grünen, Simone Peter, vor dem Hintergrund der positiven Erfahrungen bei der Mobilisierung gegen TTIP zu Jahresbeginn aufruft: „Progressive Kräfte bündeln“, für eine rot-rot-grüne Vision, für einen sozial-ökologischen Wandel – dann sollte die LINKE die ausgestreckte Hand ergreifen! 10

Brigitte Forßbohm, Januar 2016

 

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Europa zu Jahresbeginn 2016
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